Vorurteilsfreies Recruiting – Gefährliche Denkmuster

Vorurteile trüben den Blick auf Talente und schmälern die Leistung exzellenter Mitarbeiter. Doch wie können wir ihnen entgehen?

Jenny Niederstadt, wiwo.de | 19.12.2021

Kinder lernen die Lektion früh. Mit fünf Jahren identifizieren sie sich noch ganz unbedarft mit positiven Figuren, zum Beispiel besonders klugen Menschen. Fragt man sie in diesem Alter, welches Geschlecht eine geistreiche Person wohl hat, sehen Mädchen in ihr deshalb erwartungsgemäß eher eine Frau, Jungen dagegen einen Mann. Doch schon ein Jahr ältere Kinder kommen zu einem ganz anderen Urteil: Sechsjährige Mädchen vermuten hinter einem brillanten Kopf nun häufiger eine männliche Person, so das Ergebnis einer aktuellen Studie dreier Hochschulen aus den USA.

Erschreckend genug, aber es kommt noch schlimmer. Denn auch die Ambitionen der Kleinen sinken: Wird ihnen ein Spiel angeboten mit dem Hinweis, es richte sich an „wirklich schlaue Kinder“, wagen sich unter den Fünfjährigen noch genauso viele Jungen wie Mädchen an die Aufgabe. Bei den Sechsjährigen dagegen lehnen Mädchen die Herausforderung zunehmend ab: Geistesblitze trauen sie nun eher männlichen Personen zu – den Glauben an die eigenen Fähigkeiten haben sie bereits verloren. 

Stereotype Rollenbilder beeinflussen uns auch unbewusst

„Stereotype beeinflussen die Entscheidungen von Mädchen in einem herzzerreißend frühen Alter“, kommentiert Princeton-Professorin Sarah-Jane Leslie ihre Studie. Je älter sie werden, desto mehr passten Kinder ihre Erwartungen gesellschaftlichen Denkmodellen an. Und diesen Normen zufolge gelten Frauen häufig als weniger kompetent. Vor den langfristigen Folgen dieser Klischees für Mädchen warnt Leslies Co-Autor Andrei Cimpian, Psychologieprofessor an der Universität von New York: Wer das eigene Können infrage stellt, bildet ein geringeres Selbstwertgefühl aus und senkt seine Ansprüche an die Zukunft – auch an die eigene Karriere. Frauen nehmen sich so womöglich schon sehr früh selbst aus dem Spiel um die besten Plätze im Berufsleben.

Immer detaillierter können Forscher belegen, wie uns solche Denkmuster leiten, im Alltag, aber auch im Büro. Die Nerds aus der IT, der exzentrische Schwule in der PR-Abteilung, die verkniffene Karrierefrau im Vorstand: Derartige Rollenbilder wirken bewusst oder unbewusst bei allen Menschen. Wir beurteilen die Fähigkeiten anderer, aber auch unsere eigenen anhand von Vorurteilen und können uns der Macht von Stereotypen kaum entziehen. Sie beflügeln oder lähmen uns, verhelfen zu unverdientem Ruhm oder verbergen Talente. Welche fatalen Folgen sie in der Wirtschaft haben, belegen zahlreiche Studien: Ältere Mitarbeiter etwa fühlen sich als wenig belastbar abgestempelt und gehen innerlich auf Distanz zur Firma – ihre tatsächlich unveränderten Fähigkeiten fließen dann eher in ein Ehrenamt. Und manch ein Blender mit durchschnittlichem Können klettert die Karriereleiter nach oben, nur weil er einem Karriereklischee entspricht – und sei es nur, dass er jung, weiß und männlich ist.

Doch wie können Personalchefs, Kollegen und vor allem wir selbst diesen gefährlichen Denkmustern entgehen? Können Algorithmen uns zukünftig vor falschen Schlussfolgerungen bewahren? Oder reicht es schon, sich die Gefahr einzugestehen, die von Klischees ausgeht?

Die Macht von Vorurteilen ist nicht zu unterschätzen

Mitnichten. Harvard-Professorin Iris Bohnet, die zu Vorurteilen forscht, warnt davor, deren Kraft zu unterschätzen. Zum Beispiel auf Reisen: Viele Passagiere beschleiche Unwohlsein, sagt Bohnet, wenn sich im Flugzeug über das Bordtelefon eine Pilotin meldet. Selbst wer keine Bedenken gegen Frauen in Männerdomänen pflege, stutze – und sei es nur, weil die Situation ungewohnt sei. Von einer Sekunde auf die andere würde jede Vibration während des Flugs bedeutsam, jedes Geräusch registriert – wer derart angespannt fliegt, würde die Maschine zwangsläufig mit dem Gefühl verlassen, der Flug mit der Pilotin sei anstrengend gewesen.

Auch im Berufsleben entdeckt Verhaltensökonomin Bohnet immer wieder diese unbewusst wirkenden Vorurteile. Offene Diskriminierung finde in westlichen Industrienationen zwar nur noch selten statt. Dennoch brechen sich die Klischees Bahn. Zu tief sind sie in unserem Gehirn verwurzelt, als dass einfache Diversity-Trainings sie überwinden könnten.

Kaum ein männlicher Vorgesetzter beschließe zum Beispiel aktiv, talentierte Frauen nicht zu fördern, so die Harvard-Professorin. Er würde ja auch gegen das eigene Interesse handeln, wenn er nicht die besten Köpfe in sein Team holt. In Bewerbungsgespräche gehen Chefs deshalb mit dem festen Entschluss, objektiv zu urteilen.

Wie sehr sie dennoch der Macht traditioneller Denkschablonen verfallen, zeigt ein Beispiel aus der Musikwelt: Die renommiertesten Orchester der USA wiesen lange Zeit einen Frauenanteil von nur fünf Prozent auf. Das Missverhältnis sei kein Zeichen von Sexismus, erklärten die Dirigenten. Sie würden bei der Auswahl streng nach der Qualität des Vorspiels entscheiden. Frauen spielten aber aufgrund ihrer Lungengröße und Lippenform nun einmal anders, so die Maestros. Erste Orchester setzten trotzdem durch, dass bei der Auswahl ein Vorhang zwischen Jury und Bewerber gezogen wurde. Die Frauenquote ist seitdem auf bis zu 40 Prozent gestiegen – erst im Blindtest waren die Dirigenten zu einer fairen Bewertung fähig.
 
Ein bekanntes Experiment der Harvard Business School zeigt, dass selbst Menschen von Vorurteilen getroffen werden, die längst bewiesen haben, wie erfolgreich sie arbeiten. Psychologen legten Studenten die Biografie einer Person mit einer beeindruckenden Karriere vor. Die eine Hälfte der Studenten las die Angaben in dem Glauben, die Person heiße Howard Roizin, die andere Hälfte erhielt den Lebenslauf von Heidi Roizin. Nach der Lektüre baten die Forscher um ein Urteil. Beiden wurde unternehmerisches Talent attestiert.

Vorurteile beeinflussen sogar das Selbstbild

Doch während die Studenten Howard auch menschlich schätzten, mochten sie Heidi überhaupt nicht: Sie sei sicher unsympathisch und viel zu ehrgeizig. Bewerben würden sie sich bei so einer Person auf keinen Fall. Im realen Leben hätten sie sich damit um die Chance auf eine Karriere bei einer der wichtigsten Investoren im Silicon Valley gebracht. Denn Heidi Roizen gibt es wirklich: Sie zählt zu den bedeutendsten Risikokapitalgebern der IT-Branche.

Vorurteile trüben aber nicht nur den Blick auf andere. Auch die eigene Leistung kann unter ihnen leiden, wie Bildungsforscher der Uni Konstanz in Studien mit 2500 Kindern herausfanden. Türkischstämmige Schüler etwa schnitten bei Matheprüfungen schlechter ab, wenn sie kurz vorher daran erinnert wurden, dass sie in Bildungsfragen oft als Problemgruppe angesehen werden.

Wissenschaftler sprechen in diesem Fall vom „Stereotype threat“, der empfundenen Bedrohung durch Stereotype: Befürchten wir, von anderen aufgrund unserer Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe beargwöhnt zu werden, agieren wir wie unter einem Brennglas, wir sehen uns von vornherein im Nachteil und verkrampfen, Leistung und Motivation sacken ab.

Stereotype: Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung?

Hunderte von Studien belegen den Effekt, der jeden treffen kann. Kapuzenpulliträger unter Kollegen im Anzug („unseriös“), Menschen mit einfachem Bildungsgrad im Kreis von Akademikern („dumm“), Mitarbeiter jenseits der 40 („unflexibel“). Selbst Stereotypen-Forscher wie Hannes Zacher von der Uni Leipzig erliegen ihm: Während seiner langjährigen Auslandsaufenthalte fürchtete der Psychologe um seine Wirkung auf andere, sobald sie erfuhren, dass er aus Deutschland stammt. Erwarteten seine Kollegen nun einen überkorrekten Langweiler? Einen durchorganisierten Leistungsfetischisten? Und wenn er diesen Ideen nicht entsprach: Wären die anderen erfreut oder enttäuscht? „Stereotype lassen uns nie kalt“, sagt Zacher, „selbst wenn unser Gegenüber sie gar nicht teilt, können Ängste entstehen.“

Die Folgen für das Selbstbewusstsein sind verheerend, gerade in der Arbeitswelt. Denn wer sich diskriminiert fühlt, reagiert weniger offen auf Kritik, integriert sich nur zögernd in die Unternehmenskultur, leistet weniger und wird häufiger krank. So geraten Stereotype mitunter sogar zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Mitarbeiter mit ausländischen Wurzeln zum Beispiel bemühen sich vielleicht gar nicht um eine Beförderung – in dem Glauben, beim deutschen Vorgesetzten ohnehin keine Chance zu haben.

Selbst gut gemeinte Initiativen können verstören: Sozialpsychologe Zacher konnte in einer aktuellen Studie nachweisen, dass Managerinnen mit Kindern die familienfreundlichen Angebote ihres Arbeitgebers besonders kritisch bewerten – obwohl sie die Erleichterungen gerne in Anspruch nehmen. „Sie fürchten aber, damit ihren Status als Leistungsträgerinnen zu verlieren und stattdessen in eine Schublade mit anderen arbeitenden Müttern gesteckt zu werden – und die gelten in vielen Unternehmen immer noch als nicht sonderlich belastbar.“ Gerade leistungsbereite Menschen reagieren stark auf befürchtete Vorurteile von andern.

Tatsächlich ist der Stress, den Klischees auslösen, sogar körperlich messbar: So zeigte der amerikanische Sozialpsychologe Claude Steele Studentinnen zwei Videos von wissenschaftlichen Tagungen. Die eine Hälfte der Studentinnen sah Bilder einer Konferenz, an der etwa gleich viele Frauen und Männer teilnahmen. Der anderen Gruppe aber spielte Steele Aufnahmen eines Treffens vor, bei dem nur ein Viertel aller Wissenschaftler weiblich war. Diese Studentinnen entwickelten während der Betrachtung höheren Blutdruck, und sie schwitzten stärker. Wenig verwunderlich sank anschließend ihre Bereitschaft, in Zukunft wissenschaftliche Tagungen zu besuchen.

Auch das Interesse an Führungsaufgaben leidet, genauso wie die Fähigkeit dazu: Zahlreiche Studien belegen, dass Menschen, die unter Stereotype threat leiden, schlechter verhandeln, ungern in Konkurrenz treten und Risiken meiden. Keine idealen Voraussetzungen für Leitungspositionen.  

Wie aber kann es gelingen, derartige Effekte aufzuheben und mit klarem Blick über uns selbst und andere zu urteilen? Aufklärung allein reicht nicht, warnen Forscher, denn viele Klischeevorstellungen sind zu tief in unserem Bewusstsein verwurzelt, als dass wir sie durch den Verstand ausschalten könnten. Stattdessen müssen wir ihnen andere Bilder gegenüberstellen, argumentieren die Psychologen. Wir sollten deutlich sichtbare Vorbilder schaffen, um unsere traditionellen Denkmuster zu durchbrechen. Also: ethnische Vielfalt bei Recruiting-Events zeigen, Männer auf Broschüren abbilden, die für Teilzeit werben, oder Frauen in den Vorstand berufen.

Blindbewerbungen und ein standardisiertes Vorstellungsgespräch

Derartige Beförderungen wirken allerdings nicht, solange nur Alibistellen geschaffen werden, belegen Studien: Eine einzige Frau im Vorstand zum Beispiel reicht nicht, um Rollenklischees infrage zu stellen, denn sie wird nur als Ausnahme wahrgenommen. Nur wenn in der Leitung tatsächlich Diversity herrscht, brechen unsere Denkmuster auf. Forscher errechneten, dass erst ein Anteil von 30 Prozent positiv auf die Mitarbeiter wirkt.

Für eine objektivere Personalauswahl könnten künftig IT-gestützte Verfahren sorgen, hofft Harvard-Ökonomin Bohnet: Derartige Programme urteilen allein anhand von Qualifikationen und können nicht in Schubladen denken. Die Forscherin empfiehlt Unternehmen außerdem Blindbewerbungen, die nicht nur das Geschlecht verheimlichen, sondern auch Alter und Wohnort. Das erste Bewerbungsgespräch sollte außerdem standardisiert ablaufen: Erst wenn alle Bewerber identische Aufgaben und Fragen erhalten, können vergleichbare Informationen über sie vorliegen. Und das erhöht die Chance, dass Personalentscheider beim anschließenden, persönlichen Vorstellungsgespräch stärker auf die tatsächlichen Talente potenzieller Mitarbeiter achten – und nicht zum Beispiel auf die Tatsache, dass sie ausländische Wurzeln haben oder bereits etwas älter sind. 

Vorurteile mit Humor nehmen

Auch auf individueller Ebene können Psychologen einige hilfreiche Methoden benennen, die das Aufkommen von Ängsten unterbinden: So scheint die Besinnung auf eigene Stärken zu schützen. Dazu genügt es, sich für eine Viertelstunde auf die eigenen Werte und Talente zu konzentrieren und sie niederzuschreiben. Mit diesem Vorgehen konnten Sozialpsychologen der Universität von Stanford zum Beispiel die Schulleistungen einer Gruppe von schwarzen Kindern in den USA langfristig steigern und auf das Niveau ihrer weißen Mitschüler heben.

Und mitunter hilft wohl auch eine Portion Humor: Wissenschaftler der Western-Carolina-Universität konnten nachweisen, dass Frauen, die das Leben generell mit mehr Humor nehmen, in Mathetests besser abschneiden, selbst wenn sie während der Prüfung von Vorurteilen gestresst waren. Der Effekt lässt sich sogar kurzfristig hervorrufen: Wer vor einem Test Cartoons liest und nicht etwa Gedichte, schneidet besser ab, so die Forscher um den Psychologen Thomas Ford.

So albern manch ein Vorurteil also auch sein mag, so leicht lässt es sich mitunter weglachen.