Lass uns streiten, Chef

Konflikte gehören im Job zum Alltag. Doch muss der Chef sie immer gewinnen? Konfliktmanager sagen, sie wüssten die Antwort. Ob das stimmt? Ein Test soll es zeigen.

Tina Groll, zeit.de | 11.09.2018

Mit dem Chef zu streiten bringt nichts, der Ranghöhere hat ohnehin immer das letzte Wort, offene Konflikte mit dem Vorgesetzten schaden der Karriere. Viola Moritz hört solche Sätze ständig. Aber sie sind falsch, sagt die Kommunikationstrainerin. Streiten lohnt sich auch mit dem Chef, behauptet sie.

Seit vielen Jahren lehrt Moritz in Konfliktmanagement-Seminaren, wie das geht. In zwei Tagen sollen die Teilnehmer konstruktiv streiten lernen.

Das will ich ausprobieren. In einen hellen Raum mit Blick über die Dächer von Berlin-Mitte kommen vier Mitarbeiterinnen eines Projektteams aus einem norddeutschen Unternehmen und zwei Nachwuchsführungskräfte.

Unterschiedliche Konflikttypen

Alles Frauen zwischen Ende 20 und Mitte 40, ambitionierte Geschäftsleute mit Berufserfahrung und beeindruckenden Lebensläufen. Frauen, denen man durchaus zutraut, dass sie sich in Konfliktsituationen souverän durchsetzen.

Der einzige Mann hat abgesagt. Das habe nichts zu bedeuten, sagt Moritz: „Einen kleinen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt es schon. Männer legen auch mal ein lautes Wort nicht gleich auf die Goldwaage, Frauen sind häufig etwas empathischer. Vor allem gibt es aber Unterschiede zwischen den verschiedenen Konflikttypen.“

Welche das sind, will uns die Expertin zeigen. Auch wie man Konflikte erkennt, steuert und löst, sollen wir lernen.

Dann wirft die Trainerin fünf Karten auf den Boden. Darauf steht: Ruhe bewahren. Empathie zeigen. Den Konflikt offen ansprechen. Auch mal fünf gerade sein lassen. Seinen Standpunkt vertreten.

Jetzt sollen wir uns zu der Karte stellen, die am ehesten einer unserer Stärken entspricht.

Die Führungskräfte unter uns suchen sich sogleich die härteren Kompetenzen aus. Die anderen entscheiden sich lieber für die weicheren Fähigkeiten. Und ich? Konflikte ansprechen, das passt. Wenn mich etwas bei der Arbeit nervt, dann sage ich es meinem Chef. Das hat bisher immer ganz gut geklappt.

Konflikte sind immer eine Chance

„Alle fünf Stärken sind gleichwertig und wichtig, um Konflikte zu lösen“, sagt die Trainerin.

Dann sollen wir in Gruppen Fragen beantworten: Was ist ein Konflikt, wie löst man ihn aus und welche Chancen bringt ein Streit mit sich? Wann haben wir zuletzt im Job gestritten? Haben wir von einer der fünf Stärken Gebrauch gemacht?

„Auseinandersetzungen sind die Chance für Veränderungen“, findet eine junge Teamleiterin. Dann erzählt sie, wie sie mit ihren Mitarbeitern immer wieder hitzige Diskussionen über ihren Arbeitsstil führt.

Zweifel am Durchsetzungsvermögen

Alle im Team sind neu in ihren Jobs. Und obwohl sie von ihrer Fachkompetenz überzeugt ist, zweifelt die Teamleiterin an ihrer Durchsetzungsfähigkeit.

„Ich mache die meiste Arbeit selbst und bin entsprechend gestresst. Aber wenn ich Aufgaben an meine Mitarbeiter abgebe, verursachen sie mir oft noch mehr Arbeit. Sie stellen viele Rückfragen, schlagen teilweise andere Lösungen vor. Das kostet mich viel Zeit und ärgert mich auch.

Da mache ich es lieber schnell selbst. Aber damit demotiviere ich mein Team zugleich. Wenn die Kollegen aber nicht motiviert sind, neige ich erst recht dazu, alles selbst zu machen.“

Dann berichtet das Projektteam von seinem kontrollwütigen Chef, der seinen Mitarbeiterinnen wenig Vertrauen entgegenbringt.

„Die ganze Kommunikation läuft über ihn. Das lähmt uns. Denn er gibt uns wichtige Informationen nicht oder zu spät. Wir haben schon oft für den Papierkorb gearbeitet“, sagt die Älteste aus dem Team.

Einige hätten es schon angesprochen, doch der Chef habe sie entweder vertröstet oder sei verärgert gewesen und habe es persönlich genommen.

Konflike können Potenziale freisetzen

„Er meint oft in Sitzungen, unsere Gesichter lesen zu können. Dann sagt er vorwurfsvoll: Frau Müller, jetzt gucken Sie nicht schon wieder so! Dabei habe ich ganz normal geguckt“, schildert eine andere.

„Ich glaube, wenn wir so etwas ansprechen, würde die Situation nur eskalieren. Das bringt nichts“, sagt ihre Kollegin. Aber immerhin hat dieser Chef sein Team ja gerade zu einem Konfliktmanagement-Seminar geschickt und sich selbst ein Coaching verordnet, denke ich.

Ob er wirklich konfliktscheu ist? „Konflikte können Potenziale, Kreativität und Innovationen freisetzen. Ein Konflikt birgt immer die Chance, daran zu wachsen“, sagt die Trainerin.

Auf den Erfahrungsaustausch folgt die Theorie. Der Konfliktforscher Friedrich Glasl unterscheidet drei Quellen der Auseinandersetzung.

Da gibt es den sozialen Konflikt zwischen zwei oder mehr Personen und Parteien, die unterschiedliche Interessen haben. Das zweite sind innere Konflikte, Mutter zu sein und gleichzeitig Chefin mit sehr langen Arbeitstagen beispielsweise.

Schließlich können strukturelle Konflikte entstehen, die durch schlecht abgestimmte Abläufe in einer Organisation verursacht werden.

Frust, Ärger, Stress

Egal welcher Art ein Konflikt ist, er läuft immer nach dem gleichen Schema ab. Zirkularität nennt es Moritz. Die Trainerin verdeutlicht das anhand unserer letzten Konfliktsituation.

Zunächst entsteht eine Irritation – beispielsweise weil der Chef nicht transparent kommuniziert. Das führt zu Frust, Ärger und Stress. Wer unter Stress steht, neigt aber zum Tunnelblick, die Wahrnehmung der Dinge verzerrt sich.

Vergesslicher Chef

Neulich, erzählt eine Frau aus dem Projektteam, habe sie mehrere Tage lang eine wichtige Präsentation vorbereitet. Der Chef hatte jedoch vergessen, ihr mitzuteilen, dass sich Ort und Uhrzeit der Veranstaltung verändert hatten. Beiläufig habe sie davon kurz vor dem Event erfahren.

„Ich musste alles ändern! Alle Einladungen neu verschicken, mich bei den Gästen entschuldigen und die Unterlagen anpassen.“

Doch statt mit dem Chef zu sprechen, habe sie ihrem Ärger nur unter den Kolleginnen Luft gemacht.

Das ist typisch: Man sucht Verbündete. Soziale Ansteckung nennt das die Konfliktforschung. Doch das Klüngeln mit Leidensgenossen führt nur zu weiterem Verlust von Empathie und hindert uns daran, das Verhalten des anderen zu verstehen.

Der Konflikt eskaliert.

Warum hat der Chef vergessen, ihr die Information rechtzeitig zu geben? „Ich glaube nicht, dass es böse Absicht war. Er kann wahrscheinlich schlecht abgeben. Und außerdem hat er ja noch ein zweites Projekt an den Hacken.“

Kommunikation schützt vor Eskalation

Wenn Konflikte eskalieren, hören wir, verläuft das in verschiedenen Stufen. Am Anfang lässt sich die Situation noch über Gespräche konstruktiv lösen.

Hat der Streit jedoch schon ein mittleres Eskalationsniveau erreicht, ist die Kommunikation deutlich schwieriger. Hier befindet sich das Projektteam gerade, analysiert die Trainerin.

Schutz vor ernsthaftem Schaden

Nachdem die Gesprächsversuche einzelner Teammitglieder mit dem Chef nicht erfolgreich waren, wagt nun keine mehr den Vorstoß. Stattdessen beklagen sich die Mitarbeiterinnen hinter seinem Rücken über die Situation.

Aber wenn die Auseinandersetzungen nicht gelöst werden, droht die höchste Eskalationsstufe: Beide Parteien fügen einander Schaden zu. Nun kann der Konflikt nur noch durch eine mächtige Hand von außen befriedet werden.

Doch warum fällt es so schwer, Konflikte rechtzeitig anzusprechen und zu lösen?

Hier hilft wieder der Blick auf uns selbst. Abermals legt Moritz Karten auf den Boden, vier Stück, die ein Koordinatensystem bilden sollen.

Jede steht für einen Konflikttyp: Der eine neigt eher zu Distanz und Sachlichkeit, dem anderen ist Nähe und ein persönlicher Umgang wichtig. Ein weiterer liebt Struktur und bevorzugt Hierarchien und noch einer ist eher kreativ und braucht intellektuellen Freiraum.

Aufschlussreicher Selbstversuch

Weil jeder Mensch Anteile von allen Eigenschaften in sich trägt, sollen wir uns in diesem Feld dorthin stellen, wo wir uns am besten beschrieben finden.

Der Selbstversuch ist aufschlussreich: Die eher konfliktscheue Mitarbeiterin hat sich den Platz mit dem höchsten Nähewert gesucht. Die Führungskräfte stehen näher auf der Dauer- und Distanzseite. Ich mag Ordnung und Struktur, aber auch Nähe.

Persönliche Wirkung auf andere

Nun schickt die Trainerin uns dorthin, wo wir die anderen sehen würden. Das zeigt, wie wir auf andere wirken.

Das Ziel: Wenn Selbstbild und Fremdbild übereinstimmen, werden unsere Handlungen und Aussagen auch so verstanden, wie sie gemeint sind. Dafür aber müssen wir die Perspektive wechseln und uns in unsere Gegner hineinversetzen.

Die richtige Kommunikation ist in Konfliktsituationen also der Schlüssel zum Erfolg. Dabei hilft es, zu wissen, was die verschiedenen Typen im Streitfall brauchen.

Der Nähetyp braucht Wertschätzung, die Dauer- und Distanzmenschen vor allem Sachlichkeit und der Wechseltyp ein gewisses Maß an Freiheit.

Aber wie schafft man es, konstruktiv zu kommunizieren, wenn man eigentlich auf 180 ist?

Richtiges Verstehen

„SAG ES“, antwortet Moritz. Wobei das S für ‚Sichtweise schildern‘ steht. A für ‚Auswirkungen beschreiben‘, G für ‚Gefühle nennen‘. E dafür, die Sichtweise des anderen zu erfragen und S dafür, eine Schlussfolgerung zu vereinbaren.

Besonders das Erfragen ist wichtig. Denn oft verstehen wir eine Aussage ganz anders, als sie gemeint ist.

Deshalb hilft es, den Dialog zu verlangsamen, um sicherzustellen, dass das Gesagte auch richtig verstanden wird.

Hilfreiche Selbsterkenntnis

In Rollenspielen üben wir das jetzt mit Ich-Botschaften, Nachfragen und Empathie. Wie fühlt sich der andere? Noch einmal gehen wir unsere Konfliktsituationen durch.

„Was für eine unangenehme Person!“, stellt die junge Chefin, die lieber alles selbst macht, über sich selbst fest. „Da bieten mir meine Mitarbeiter ihre Arbeitsleistung an, und ich motze rum.“

Die Kolleginnen aus der Projektgruppe betrachten ihre Arbeitssituation mit den Augen ihres Chefs. Wie fühlt es sich an, wenn man gleich zwei Projekte verantwortet und als männlicher Chef einer starken Frauentruppe gegenübersteht, die Konflikte nicht offen anspricht? „Der hat es mit uns gar nicht so einfach.“

Nach soviel Selbsterkenntnis bleibt die Frage: Wie können wir nun mit unseren Streitgegnern reden?

Ein Konfliktgespräch will sorgfältig vorbereitet werden, soviel ist schnell klar. Was ist das Ziel, was wäre als Kompromiss akzeptabel?

„Nicht zu lange rumreden, sondern lieber sachlich auf den Punkt kommen“, empfiehlt die Trainerin außerdem. Erst recht wenn man noch wütend ist. Unsere Körpersprache verrät das ohnehin.

Reflektierendes Gespräch

Und immer wieder Rückfragen stellen. Ist die Antwort wirklich so gemeint, wie sie aufgefasst wird? Wenn alles gut läuft, erwächst daraus eine Lösung.

„Ganz zum Schluss sollte man noch einmal schauen, ob alles besprochen wurde und das Gespräch reflektieren“, sagt Moritz. „Diese Metakommunikation festigt auch die professionelle Zusammenarbeit – und daran ist jeder Chef interessiert.“

Leitfaden und SAG-ES-Methode

Am Ende von zwei Seminartagen nehmen wir eine Reihe Selbsterkenntnisse und einen Schwung Vorsätze mit. Die junge Chefin will die Methoden ihrem Team beibringen, mehr delegieren und ihre Mitarbeiter loben. Ich will in Konflikten künftig häufiger die Perspektive des anderen erfragen.
 
Die Projektgruppe hat einen Leitfaden für das Konfliktgespräch mit dem Chef vorbereitet. Die Frauen sind zuversichtlich. „Und wenn es nicht klappt, kommen wir mit dem Chef wieder.“

Bei mir hat es tatsächlich geklappt. In Team-Besprechungen verwende ich die SAG-ES-Methode. Ich höre aktiv zu, frage nach, wie ein Kollege eine Aussage meint, bevor ich mich voreilig über das aufrege, was bei mir angekommen ist. Das Leben ist ein bisschen einfacher geworden. Streiten kann man also wirklich lernen.

Zuerst veröffentlicht auf zeit.de