Die zwei Gesichter der Sorbonne

Der Mythos Sorbonne lockt jedes Jahr rund 4.000 Studenten aus aller Welt nach Paris. Doch hinter der prachtvollen Fassade lauern die Tücken einer Massen-Uni. Politikstudent Jan Philipp Burgard hat dies während seines Auslandssemesters am eigenen Leib erlebt. Ein Erfahrungsbericht.

Philipp Burgard | 11.09.2018

Es ist mein erster Tag an der Sorbonne und vielleicht wird es mein letzter sein. Ich werde die Einschreibefrist verpassen, denn ein pflichtbewusster Wachmann in ozeanblauer Uniform verwehrt mir den Zutritt: „Ohne Studentenausweis kommt hier keiner rein!“ Erst nachdem ich mit meinem mittelprächtigen Französisch glaubhaft machen kann, dass ich nicht gekommen bin, um Studentenproteste anzuzetteln, lässt er mich passieren. Als ich durch den Ehrenhof laufe, mustert mich der in Stein geschlagene Victor Hugo mit kritischem Blick. Nobelpreisträger und sogar Päpste studierten und lehrten hier. Ob der kleine Student aus dem Sauerland willkommen ist?

Ich fühle mich ein bisschen wie bei der Einschulung – nur dass ich heute keine Schultüte dabei habe, an der ich mich festklammern könnte. Im Inneren des klassizistischen Baus betrachte ich mit großen Augen die Wandgemälde. Sie erinnern an eine Zeit, als berühmte Denker wie Thomas von Aquin, Albertus Magnus oder Marie Curie an der ehrwürdigen Alma Mater studierten. Heute allerdings schiebt sich nur eine endlose Schlange von murrenden Studenten durch die Gänge, um sich für Fächer wie Philosophie, Geschichte, Literatur, Archäologie, Musik oder eine der mehr als 20 angebotenen Sprachen einzuschreiben.

Als ich nach einer guten Stunde Wartezeit endlich an der Reihe bin, weicht meine Vorfreude schnell Ernüchterung. Es begrüßt mich kein honoriger Professor mit Handschlag und bittet feierlich, mich mit einem Mont-Blanc-Füller in eine Liste aus Pergamentpapier einzutragen. Stattdessen schnauzt mich eine Bürokraft mit Nickelbrille an, weil ich meine Krankenversicherungsbescheinigung nicht zwei-, sondern nur einfach kopiert habe. Bei rund 30.000 Studenten ist eine persönlichere Begrüßung wohl auch etwas zu viel verlangt. Immerhin übernimmt ein französischer Kommilitone, der meine Verwunderung über die kühle Abfertigung beobachtet hat, das Grußwort: „Willkommen an der schönsten Massen-Uni Frankreichs“, sagt er mit einem Schmunzeln und stimmt mich auf die langen Warteschlangen vor den Präsenzbibliotheken ein.

Bei den Vorlesungen finde ich „Masse und Klasse“. In den meist mit Kronleuchtern, alten Gemälden und Stuck verzierten Hörsälen wird es oft ähnlich „gemütlich“ wie in zahlreichen deutschen Unis. Dafür werden die Studenten mit hervorragenden Professoren entschädigt. In Geschichte etwa zieht mich der von seinen Schützlingen ehrfurchtsvoll „Grand maître“ (Großmeister) genannte Jean-Pierre Chaline in seinen Bann. Wenn er über die „Belle Époque“ spricht, fühlt man sich mit einer Zeitmaschine in die Salons und Cabarets der Bourgeoisie zurückversetzt. Vielleicht liegt es tatsächlich an dem über Frankreich hinaus bekannten Professor im eleganten Anzug, dass sich niemand über Fußballergebnisse unterhält: Meine Banknachbarn schreiben fast manisch Wort für Wort mit, und ich habe das Gefühl, in einem Volkshochschulkurs für Stenographie gelandet zu sein. In Frankreich lernt man schon in der Schule, jedes noch so kleine Detail aufzuschreiben und auswendig zu lernen.

PowerPoint gibt’s nicht

Als meine ersten Smalltalk-Versuche mit den französischen Kommilitonen kläglich scheitern, lerne ich zum Glück David, einen Leidensgenossen aus Irland, kennen. Nach der Vorlesung tauschen wir in einer Bar am Place de la Sorbonne unsere Erfahrungen mit der französischen Bürokratie aus. Dabei fühlt sich der rothaarige Rugbyspieler aus Dublin plötzlich durch einen Maßkrug hinter der Theke an das Oktoberfest erinnert und bestellt eine Runde nach der anderen. Bei der anschließenden Vorlesung hätten wir wohl auch mit perfekten Französischkenntnissen große Verständnisprobleme gehabt.

In meinem ersten Seminar habe ich ernsthafte Zweifel, ob ich tatsächlich an der Sorbonne gelandet bin. Denn ein schlafmütziger Kommilitone im Gammel-Outfit spult mit dem Elan eines pensionierten Archivars ein Referat über die Europa-Politik von Charles de Gaulle herunter, so dass meine Vorstellung von der Pariser Elite-Uni wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzt. Moderne Vortragsmethoden wie Powerpoint sind an der antiquierten Sorbonne noch nicht angekommen, nicht einmal ein Overhead-Projektor kommt zum Einsatz. Der zweite Vortrag hingegen ist inhaltlich stark, und die quirlige Studentin brennt auch ohne Medieneinsatz ein rhetorisches Feuerwerk ab. Sie könnte ich mir gut als Kandidatin im Präsidentschaftswahlkampf 2017 vorstellen. „An der Sorbonne gibt es keine Aufnahmeprüfung, deshalb variiert das Niveau der Studenten extrem. Eine natürliche Selektion setzt erst nach den ersten Semestern ein“, erklärt mir Eric, mein lockenköpfiger Kumpel aus Lille, der zu jeder Vorlesung zu spät kommt.

In der Mittagspause wedelt mir Eric mit einem vom Times-Magazin veröffentlichten Ranking der weltbesten Universitäten vor der Nase herum. „Unsere“ Uni rangiert weit hinter Harvard und Co. auf Platz 121 – und ich frage mich, wann die stets vor dem Haupteingang anzutreffenden asiatischen Touristen wohl aufhören werden, ganze Fotoserien von der Sorbonne zu knipsen.
Einen Empfang für die ausländischen Studenten in den „Grands Salons“ nutze ich, um den Universitätspräsidenten höchstpersönlich zu fragen, was außer der majestätischen Fassade und der Tradition heute noch hinter dem „Mythos Sorbonne“ stecke. Jean-Robert Pitte muss über seine Antwort nicht lange nachdenken: „Die Sorbonne lockt mit ihrem Prestige immer noch die besten Professoren des Landes nach Paris“, sagt er.

Arbeitgeber kriegen große Ohren

Um bald ausschließlich die besten Studenten an seine Universität holen zu können, macht er sich für die Einführung eines Auswahlverfahrens stark. „Wir dürfen keine Abiturzeugnisse mehr akzeptieren, die gerade einmal für eine Ausbildung zum Tischler qualifizieren. Wenn die Erfolgsaussichten gleich null sind, werden wir in Zukunft nicht zögern, dies den Kandidaten auch zu sagen“, kündigt Pitte an, der in der französischen Universitätslandschaft als Hardliner gilt. So drängt er auf eine Einführung von Studiengebühren und strebt eine engere Vernetzung von Universitäten und Unternehmen an.

Eine umwerfend attraktive französische Kommilitonin namens Marion hat das Gespräch verfolgt. „Ein Vorteil des Mythos ist, dass viele Arbeitgeber in Frankreich auch heute noch große Ohren kriegen, wenn sie Sorbonne hören. Und vor allen Dingen im Ausland hat man als Absolvent immer noch sehr gute Karten“, fügt sie mit einem Augenzwinkern hinzu. Hin- und hergerissen zwischen all den Licht- und Schattenseiten spüre ich plötzlich selbst durch die Toiletten einen philosophischen Geist wehen. Denn an der Tür entdecke ich eine denkwürdige Inschrift: „Profitez-bien de vos études – après, c´est dur. Un ancien qui regrette“ was soviel heißt wie „Nutzt eure Studienzeit – das Leben danach ist hart. Gezeichnet: Ein Ehemaliger, der bereut“.

La Sorbonne

Die Sorbonne, als älteste Universität Frankreichs im Jahr 1253 gegründet, gibt es heute eigentlich gar nicht mehr: Den Namen und den zentralen Gebäudekomplex teilen sich heute drei von insgesamt 13 aus der Universitätsreform 1970 hervorgegangenen Pariser Universitäten: Paris I Panthéon-Sorbonne, Paris III Sorbonne Nouvelle und Paris IV Paris-Sorbonne. Hier sind mehr als 30.000 Studenten aller humanwissenschaftlichen Fächer eingeschrieben.