Selbstkontrolle: Sechs Schattenseiten von selbstkontrollierten Menschen

Sie sind erfolgreich, sie sind diszipliniert, aber: Menschen, die sich immer nur im Griff haben, verpassen viel, sagt ein Wirtschaftsprofessor.

Victoria Lipp | 24.01.2020
Wer sich immer nur im Griff hat, mag im Job schnell vorankommen, wirkt aber oft gefühlskalt auf andere.

Selbstkontrolle als Fluch und Segen: Wer sich immer nur im Griff hat, mag im Job schnell vorankommen, wirkt aber oft gefühlskalt auf andere. © Karriere Foto: Zulmaury Saavedra / Unsplash

Die Faktenlage ist eindeutig. Wer kurzfristigen Impulsen widersteht, lebt nicht nur gesünder und hat statistisch gesehen mehr Geld zur Verfügung. Auch in der Karriere zählt Selbstkontrolle zu den wichtigsten Erfolgsgaranten. Das belegen gleich mehrere Studien.

Doch ist es wirklich immer von Vorteil, jeder Versuchung zu widerstehen?

Michail Kokkoris ist Assistenzprofessor am Institut für Marketing an der Wirtschaftsuniversität Wien. Der Forscher hat sich mit den negativen Seiten von Selbstkontrolle beschäftigt – mit spannenden Erkenntnissen für Chefs und all die, die hoch hinaus wollen.

Zu viel Selbstkontrolle unterdrückt Gefühle

„Menschen mit hoher Selbstkontrolle erleben bestimmte Ereignisse neutraler“, sagt Kokkoris, Heißt: Sie fühlen weniger Schmerz, aber auch weniger Glück als andere.

Und: Sie können Emotionen auch schlechter weitergeben. Erfolge feiern selbstkontrollierte Menschen also äußerst selten wild und ausgiebig.

Schade eigentlich!

Selbstkontrolle führt zu langfristiger Reue

„Ach, hätte ich mal…“ – so beginnt ein typischer Satz erfahrener Vorstandsbosse am Ende ihrer Karrieren. Und fast immer bedauern Spitzenmanager und -managerinnen die gleichen Dinge: Zu wenig Zeit für Familie und Freunden, zu gradlinig das Studium durchgezogen, zu wenig aufs Bauchgefühl gehört.

„Im späteren Leben bereuen selbstkontrollierte Menschen, weniger hedonistische Erfahrungen gemacht zu haben.“, meint Kokkoris.

Klar: Wer sich immer im Griff hat, erlebt eben auch weniger und arbeitet mehr.

Selbstkontrolle führt zu einer höheren Arbeitsbelastung

Wir alle kennen diesen einen Kollegen, dem wir gerne noch die ein oder andere Aufgabe aufs Auge drücken. Und genau dieses Verhalten führt bei selbstkontrollierten Menschen zu mehr Arbeit.

„Die Kollegen wissen, wer nicht Nein sagen kann und brav jede Arbeit erledigt“, weiß Kokkoris aus seinen Studien. Die Folge: Selbstkontrollierte Menschen erledigen zu viel – und damit oft auch die Arbeit anderer.

Dieser Mehraufwand führt zwangsläufig zu einer hohen Arbeitsbelastung.

Selbstkontrolle siegt auch in zwielichtigen Situationen

Selbstkontrollierte Menschen sind in der Regel geschätzte Mitarbeiter, die ihre Arbeit einwandfrei erledigen. Kommen Sie jedoch gewollt oder ungewollt in unethische oder gar verbotene Situation, sind sie oft diejenigen, die ungeschoren davonkommen.

Werden etwa Steuern in einem Unternehmen hinterzogen, sind selbstkontrollierte Menschen bei der Vertuschung oft die treibende Kraft.

„Auch in einem vermeintlich falschen Umfeld funktionieren Selbstkontrollierte einfach“, erklärt Kokkoris.

Selbstkontrolle kann emotionale Menschen unglücklich machen

Nicht alle Menschen sind für ein selbstkontrolliertes Leben gemacht, das gilt auch für die Karriere. Weniger rationale Menschen treffen berufliche Entscheidungen nicht gerne auf der Basis von Fakten, sondern prüfen, ob sie ein gutes Gefühl bei einer Sache haben.

Das kann am Ende dazu führen, dass die Bezahlung schlechter ist als woanders oder die Aufstiegschancen begrenzt.

„Für emotionalere Menschen sind Entscheidungen, die auf Selbstkontrolle basieren, trotzdem nicht immer die Besten“, so Kokkoris.

Für manche Menschen ist also ein schlechtbezahlter Job, der aber mehr Freizeit bietet, die bessere Entscheidung. Vor allem für den eigenen Seelenfrieden.

Selbstkontrolle kann zu Verzerrungen führen

Bei vielen alltäglichen Problemen sehen selbstkontrollierte Menschen die Ursache in fehlender Selbstkontrolle einzelner Mitmenschen. Läuft etwas auf der Arbeit schief, ist es einfach, mit dem Finger auf einen Kollegen zu zeigen.

„Oft spielen aber größere Aspekte und ihr Kontext eine Rolle“, meint Kokkoris.

So sind Fehler selten auf das Versagen einzelner Mitarbeiter zurückzuführen, sondern finden meistens ihren Ursprung in der Struktur einer Organisation.

Das verkennen Menschen mit einer hohen Selbstkontrolle. Sie denken: „Nun beherrsch dich doch und erledige die Aufgabe – ich mach das ja schließlich genauso.“

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