Behindert Mitgefühl die Karriere?
Empathie ist grundsätzlich gut. Gerade Chefs, die sich in andere hineinversetzen, führen angeblich besser und treffen klügere Entscheidungen. Doch jetzt warnen Forscher vor zu viel Einfühlsamkeit. Wer hat Recht?
Sie wollen irgendwann mal Chef sein oder ein besserer werden? Dann müssen Sie vor allem eine Fähigkeit besitzen: Empathie – also die Bereitschaft und Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen.
Diesen Eindruck gewinnt man zumindest beim Blick auf die Titel aktueller Ratgeber zu dem Thema. Die renommierte Wissenschaftlerin Tania Singer, Geschäftsführende Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaft in Leipzig, rät zu „Mitgefühl in der Wirtschaft“; für den Coach und Berater Andreas Graf ist Anteilnahme das „Führungsinstrument unserer Zeit“; der Wissenschaftsjournalist und Bestsellerautor Werner Bartens ist davon überzeugt, dass einfühlsame Menschen „gesund und glücklich“ sind; und der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin fordert bereits seit Jahren eine „empathische Zivilisation“.
Tatsächlich belegen Dutzende von Studien die Vorteile von Empathie – für den Körper ebenso wie für die Karriere. Wer sich in Kollegen, Kunden und Konkurrenten hineinversetzt, kann demnach besser mit Stress umgehen, leidet seltener an Depressionen und ist außerdem weniger schmerzempfindlich. Doch bei all den positiven Aspekten gerät ein wichtiges Detail in Vergessenheit: Empathie hat durchaus Schattenseiten.
Empathie laugt aus
Was sich vermeintlich leicht anhört, ist in Wahrheit harte Arbeit: In die Gefühlszustände anderer einzutauchen raubt Kraft. Studien belegen, dass Menschen, die besonders empathisch sind, schneller ermüden und sich von ihrem Job leichter überfordert fühlen. Grund dafür ist das Stresshormon Cortisol: Bei emphatischen Menschen flutet es den Körper stärker, denn Stress steckt wortwörtlich an – selbst wenn wir ihn nur bei anderen beobachten.
Das fand Tania Singer in einer Untersuchung im Jahr 2014 heraus. Sie ließ 151 Probanden komplizierte Kopfrechenaufgaben lösen und harte Vorstellungsgespräche absolvieren, während zwei vermeintliche Experten ihre Leistung beurteilten. Wenig überraschend: Die meisten Probanden ließen sich aus der Ruhe bringen, bei ihnen stieg der Cortisolspiegel deutlich an. Schon überraschender: Selbst bei den neutralen Beobachtern, die eigentlich entspannt zugucken konnten, machte sich das Stresshormon bemerkbar – und zwar selbst dann, wenn ihnen die andere Person völlig fremd war: „Emotionale Verbundenheit ist keine Voraussetzung für empathischen Stress“, resümierten die Forscher.
Wer die Nöte seiner Kollegen zu stark annimmt, kann deshalb selbst in Bedrängnis geraten. Das zeigt sich beispielsweise in Berufen, die ohnehin nach viel Einfühlungsvermögen verlangen. Kranken- und Altenpfleger etwa, die sich besonders bereitwillig aufopfern, sind emotional häufiger überlastet. Der Psychiater Lawson Wulsin analysierte 2014 die Daten von 215.000 Erwerbstätigen im US-Bundesstaat Pennsylvania. Und fand dabei heraus, dass Depressionen überdurchschnittlich oft bei jenen Berufen vorkommen, die besonders viel mit anderen interagieren müssen. Im Klartext: Kunden, Patienten und Mitmenschen sind der Stressfaktor Nummer eins.
Empathie macht einsam
Einfühlungsvermögen ist kein unerschöpfliches Reservoir: Wer sich tagsüber schon der Probleme seiner Kollegen annimmt, kommt abends abgestumpft nach Hause. Das belastet Beziehungen mitunter stark: Jonathon Halbesleben von der Universität Alabama untersuchte im Jahr 2009 gemeinsam mit Kollegen das emotionale Gleichgewicht von 800 Angestellten in verschiedenen Branchen – vom Friseur bis zum Feuerwehrmann.
Allen Mitarbeitern, die Kollegen besonders gerne zuhörten oder sie tatkräftig unterstützten, war eines gemein: Sie hatten Probleme damit, zu ihren Freunden und Verwandten eine gute Beziehung aufrechtzuerhalten. Anders formuliert: Sie hatten ihr Kontingent an Mitgefühl bereits im Job aufgebraucht.
Empathie erzeugt Abwehr
Ein gefühlskalter Vorgesetzter wirkt verstörend und erreicht seine Mitarbeiter nicht – doch ein Übermaß an Empathie ist ebenso schädlich: Hat ein Chef zu viel Verständnis für die schwierige familiäre Situation eines Mitarbeiters, mutet er den anderen Kollegen womöglich zu viel Arbeit zu. Rechtfertigt ein Einkäufer die abnehmende Leistung eines langjährigen Vertrauten aus Sympathie, schadet er seinem Unternehmen. „Empathie kippt leicht ins Mitleid“, sagt auch Myriam Bechtoldt, Psychologieprofessorin an der Frankfurt School of Finance & Management, „und das hilft niemandem.“
Sie hat die Erfolge von Psychotherapeuten untersucht. Am schlechtesten schnitten jene ab, die sich selbst als sehr empathisch beschrieben. Mit ihnen waren die Patienten am wenigsten zufrieden. Sie reagierten sogar ablehnend: Ihrer Meinung nach halfen diese Therapeuten ihnen nicht bei der Bewältigung ihrer Probleme weiter.
Empathie behindert Frauen
Wäre Empathie tatsächlich das entscheidende Talent künftiger Führungskräfte, müssten Frauen eigentlich in Heerscharen die Chefetagen stürmen. Denn im Vergleich zu Männern verfügen sie nachweislich über mehr Einfühlungsvermögen. Das zeigt sich sogar im Kernspintomografen. Roberto Mercadillo von der Universität Queretaro in Mexiko präsentierte im Jahr 2011 jeweils zwölf Männern und Frauen Bilder kranker Kinder, beide Gruppen waren emotional betroffen. Unter dem Hirnscanner zeigte sich aber, wie unterschiedlich die Gefühle verarbeitet wurden: Während bei den Männern nur einzelne Areale im Hirn ansprangen, reagierte bei den Frauen gleich ein ganzes Netzwerk. Dieses aktiviert starke Gefühle – und steigert die Hilfsbereitschaft.
Doch genau die steht Frauen oft genug im Weg. „Viele weibliche Führungskräfte haben zu viel Verständnis für die Probleme anderer“, sagt Sigrid Meuselbach, die vor allem Frauen in der Führungsetage coacht. Der Mitarbeiter hat ein krankes Kind zu Hause? Die Kollegin macht gerade eine schwierige Scheidung durch? „Frauen werden viel zu schnell weich, springen auf und erledigen diesen Job dann eben auch noch mit“, sagt Meuselbach. Das kostet sie Kraft, die sie besser in die eigene Arbeit stecken könnten.
Empathie manipuliert
Folgende Situation: Ein Zug rollt unaufhaltsam auf eine Weiche zu. Fährt er weiter, wird er fünf Monteure töten, die am Gleis hinter der Weiche arbeiten. Sie können die Weiche umstellen und den Zug auf das Nebengleis lenken. Dort ist nur ein Mann beschäftigt. Was würden Sie tun?
Der Weichensteller-Test ist ein klassisches Experiment der Psychologie. Nahezu 90 Prozent der Versuchsteilnehmer entscheiden sich dafür, die Weiche umzustellen – gemäß der Logik, dass fünf Leben mehr wiegen als eins. Eine Vergleichsgruppe aber erhält Informationen über den alleine arbeitenden Mann: Er bekommt einen fiktiven Namen, ein Alter, eine Familie. Prompt wollen mehr Probanden sein Leben retten – und dafür fünf andere Menschen sterben lassen.
Das Dilemma zeigt, wie leicht unsere Empathie zu beeinflussen ist: Sie folgt keinen festen moralischen Überzeugungen, sondern ist oft zufällig Informationen und Eindrücken ausgeliefert. Mit diesem Effekt haben zum Beispiel Entwicklungshilfe- oder Umweltorganisationen zu kämpfen: Für das rumänische Patenkind oder das verwaiste Tigerbaby lässt sich leichter Geld erhalten als für abstrakte Förderprogramme, die Armut und Artensterben besser bekämpfen – weil wir uns von Einzelschicksalen leichter beeindrucken lassen. Genauso müssen Manager berücksichtigen, dass Empathie sie zu irrationalen Handlungen verleiten kann – mal aus Rücksichtnahme, mal aus wohlwollendem Engagement. Empathie macht weich, sodass wir sachliche Argumente mitunter ignorieren.
Unsere Empathie verteilen wir ungerecht. Besonders gut können wir uns in jene hineinversetzen, die uns ähnlich sind. Hat der andere eine andere Hautfarbe, einen fremden kulturellen oder sozialen Hintergrund, sind wir weit weniger bereit, ihm empathisch zu begegnen – obwohl er es vielleicht nötiger hätte. Im Beruf bilden sich dadurch Teams, die andere ausgrenzen. Es baut sich ein Wir-Gefühl auf, das nach außen hin verheerend sein kann: Fremden begegnen diese Gruppen mit Desinteresse oder Schadenfreude, wie Mina Cikara, Psychologin an der Harvard-Universität, in einer Studie im Jahr 2011 nachwies. „Empathie klingt moralisch erhaben, kann aber auch dazu dienen, moralisch verwerfliche Handlungen zu tätigen“, sagt Claus Lamm, Neurowissenschaftler und Psychologe an der Universität Wien.
Eine Kultur der Diskriminierung könne sich somit unbewusst quer durch ganze Teams oder Abteilungen etablieren: Manager kooperieren dann nur noch mit ihresgleichen, behandeln Konkurrenten überheblich und reagieren mit übertriebener Härte, wenn sie bei anderen eine Schwäche entdecken.
Empathie begünstigt Korruption
Da Empathie das Wir-Gefühl stärkt, kann sie in Gruppen auch eine falsche Solidarität heraufbeschwören: Wer zu sehr mit den Kollegen mitfühlt, billigt auch deren Versäumnisse eher und geht gegen Fehlverhalten nicht vor. Das kann Unternehmen massiv schädigen, weil mitunter selbst Vergehen wie Betrug oder Erpressung von verschworenen Teams gedeckt werden. So konnte Francesca Gino von der Harvard Business School im Jahr 2013 nachweisen, dass Menschen eher bereit sind, zu lügen oder zu betrügen, wenn sie glauben, damit jemandem zu helfen, dem gegenüber sie Empathie empfinden.
Empathie ist kein fairer Ratgeber
Intuitiv erwarten wir, dass Menschen aus Leid lernen. Entsprechend rechnen wir zum Beispiel damit, dass ein Chef, der einen nahen Angehörigen verloren hat, mehr Verständnis zeigt, wenn ein Kollege kurz darauf denselben Schicksalsschlag durchlebt. Studien belegen allerdings das Gegenteil. Wer schmerzliche Erfahrungen durchlitten hat, urteilt über Menschen mit ähnlichem Leid besonders hart. Ehemalige Mobbingopfer etwa zeigen zwar Mitgefühl für Leidensgenossen, solange diese sich mit ihrer Situation abgefunden haben, fand Loran Nordgren von der Kellogg School of Management in Illinois in einer Studie im Jahr 2015 heraus.
Dafür reagieren sie jedoch am herzlosesten, wenn andere Mobbingopfer sich in ihrer Not wehrten. Führungskräfte müssten diese Ergebnisse besonders ernst nehmen, meint Nordgren. Denn dieser Mechanismus kann dazu führen, dass sie unbewusst gefühlskalt handeln.
Empathie wird überschätzt
Empathische Kellner bekommen mehr Trinkgeld, einfühlsame Verkäufer machen mehr Umsatz – zahlreiche Untersuchungen belegen, welche Vorteile Empathie im Berufsleben bringt. Im Vergleich zu anderen Qualitäten wird die Bedeutung emotionaler Aspekte aber häufig überschätzt, klagen Experten wie die Psychologieprofessorin Bechtoldt. „Natürlich ist es für Führungskräfte enorm wichtig, Gefühle und Stimmungen wahrzunehmen“, sagt sie. Dennoch seien Faktoren wie Intelligenz und Fachwissen wichtiger für das berufliche Fortkommen: „Emotionale Elemente werden zu hoch gehandelt.“
Empathie fehlt der Verstand
Einfühlungsvermögen lässt sich manipulieren, missbrauchen und trainieren, genauso aber auch abschalten – dazu reichen sogar einfache Schmerztabletten, wie Claus Lamm nachweisen konnte. Empathie allein kann deshalb kein guter Ratgeber sein, weder in unserem Alltag noch im Beruf. „Empathie ist ein reines Gefühl“, sagt Lamm, „was ihr fehlt, ist der Verstand – die Kraft, Lösungen zu finden und umzusetzen.“
Daher ist auch bei der vermeintlich erstrebenswerten Empathie die richtige Dosis entscheidend. Ein Chirurg muss während einer Herzoperation eiskalt agieren, Angehörige danach aber einfühlsam aufklären. Ein Strafverteidiger muss den feinen Grat finden zwischen nüchterner Parteinahme und dem respektvollen Umgang mit der Gegenseite. Und ein Vorgesetzter, der eine Kündigung vor Mitleid triefend vorträgt, ist für Betroffene genauso unerträglich wie ein eiskalter Rausschmiss.
Zuerst veröffentlicht auf wiwo.de