Psychische Gesundheit: „Wenn ich entspannen wollte, kam die Angst”

Bereits vor Corona war Angst die Nummer eins unter den psychischen Erkrankungen. Ein Erfahrungsbericht über das Leben mit Panikattacken – und einen Ausweg.

Angelika Ivanov | 19.11.2024
Bereits vor Corona waren Angststörungen häufiger verbreitet als Depressionen.

Angst und Panik I Bereits vor Corona waren Angststörungen häufiger verbreitet als Depressionen.

Mitten in der Nacht schreckt sie hoch. Ihr Herz rast. Mit letzter Kraft schleppt sich die 22-jährige Maria Eponyma* ins Bad. Sie will ihren neuen Freund nicht wecken, der neben ihr liegt.

„Mir blieb die Luft weg, alles wurde schwarz. Ich merkte: Die Ohnmacht kommt. Also habe ich mit der Faust gegen die Kacheln gehauen, um was zu spüren. Das hat funktioniert. Ich bin nicht umgekippt.” Dann erst weckt sie ihren Freund und fährt ins Krankenhaus. Das war 2008. Die erste Panikattacke. Die heute 34-jährige Maria ahnte nicht, dass noch viele Hunderte folgen werden.

Ein typischer Fall, weiß Christian Graz. Er ist Chefarzt der psychosomatischen Abteilung der Max-Grundig-Klinik im Schwarzwald. „Panikattacken sind die häufigste Ursache für falschen Alarm bei Notärzten“, sagt er. Der Forschung zufolge erkranken 6 von 100 Menschen an dieser Angststörung, die zwischendurch aber auch jahrelang gar nicht auftreten kann.

Psychosomatische Störung bleibt oft unerkannt

Angst allgemein war bereits vor der Corona-Pandemie die Nummer eins unter den psychischen Erkrankungen in Deutschland – noch vor Depressionen, zeigen Daten der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Experten rechnen, dass es angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage und Jobangst noch mehr Menschen trifft.

Im Durchschnitt dauert es fünf Jahre, bis Betroffene bei einem versierten Psychotherapeuten landen. Auch, weil die Betroffenen zu beschämt über ihren körperlichen Kollaps sind, um überhaupt einen Arzt zu konsultieren oder sie zunächst bei Internisten landen, die die psychosomatische Störung nicht effizient behandeln.

Maria hatte eigentlich Glück. Schon bei ihrem ersten Besuch in der Notaufnahme hatte der Arzt erkannt, dass es psychosomatisch war. „Das ist psychisch. Sie müssen herausfinden, was sie in ihrem Leben ändern müssen”, sagte er zu ihr, nachdem sie drei Stunden auf einer Liege lag und hyperventilierte.

Doch sie wollte ihm keinen Glauben schenken. Sie war doch erst 22, stand mitten im Leben. Erst wenige Monate zuvor hat sie eine Firma gegründet. Ein pädagogischer Zirkus, wo sie Woche für Woche an einer anderen Schule in Deutschland mit Kindern eine Show auf die Beine gestellt hat.

Flucht in die Arbeit hat die Panikattacken nur verschlimmert

Doch die Anfälle, die Panikattacken kamen immer wieder. „Vor allem, wenn ich abends entspannen wollte. In die Ruhe kam.” Ihre Lösung war, keine Ruhe mehr einkehren zu lassen. Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Als Selbstständige war das kein Problem. Häufig schläft sie am Laptop ein. Ihr fallen einfach die Augen zu. Morgens schreibt sie die Email zu Ende, die sie abends begonnen hat.

Doch die Flucht in die Arbeit verschlimmert ihren Zustand. Irgendwann holte sie die Atemnot auch tagsüber ein. „Ich spürte erst ein Kratzen im Hals. Dann folgte die Atemnot. Ich dachte, ich ersticke.” Nachts schellt sie hoch, ringt um Luft. „Das ging stundenlang bis mein Körper einfach vor Erschöpfung aufgegeben hat.”

Sie wollte etwas tun. Die Atemnot lindern. Sie ging zu einem Lungenfacharzt, zu zwei Allergologen. Sie ließ sich abhören, in den Arm pieksen, um auf Allergien und Unverträglichkeiten getestet zu werden. Die Ergebnisse waren zwar teilweise positiv, erklärten aber die Reaktion nicht. Das Rauchen hat sie nach dem Tag der ersten Panikattacke aufgehört. „Ich wollte einfach wieder Kontrolle über meinen Körper haben“, sagt sie.

Dabei ist Angst nicht per se schlecht. „Uns ist evolutionär mitgegeben, bestimmte Risiken zu vermeiden“, sagt der Berliner Risikoforscher Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. „Im Job sind vor allem die Menschen erfolgreich, die ein wenig Angst haben“ – ohne eine gewisse Anspannung gibt es eben auch keine Höchstform. Herzrasen, Schwindel und Schwitzen sollten dabei aber nicht zu stark werden.

Erst nach fünf Jahren zur Therapeutin

Doch im Fall von Maria war es zu viel. Während der Arbeit, beim Autofahren und mitten in Gesprächen mit Kunden bleibt ihr plötzlich die Luft weg. „Ich war vollkommen fertig. Ich dachte, ich sterbe”, sagt sie.

Es sind bereits fünf Jahre mit der Angst im Alltag vergangen. Erst mit 27 Jahren im Jahr 2013 vereinbart sie die erste Therapiestunde. Der Therapeutin erzählt die leistungsorientierte junge Frau, dass sie alles im Griff habe: Partnerschaft und die Firma laufen. Sie versuche ein Kind zu zeugen.

Dann sagt die Therapeutin: „Sie scheinen ja alles im Griff zu haben. Dann können sie gehen.” Maria wollte es nicht wahrhaben. Das war schließlich ihre letzte Hoffnung. „Dann erst habe ich wirklich erzählt, was mit mir los ist.” Und bereits am nächsten Tag war die Atemnot verschwunden. Vorerst.

Das Leben neu sortieren

Es folgt die Trennung, ein Umzug. Dann verliebt sich Maria während eines Urlaubs in einen Mann aus Spanien. Sie bricht die Therapie nach wenigen Monaten ab und zieht um. In Spanien schlägt sie sich mit Jobs durch. Glaubt, endlich hier in der Sonne und ihrer wahren Liebe ihr Glück zu finden.

Sie findet endlich eine feste eine Stelle in einer Marketingagentur, wo sie Überstunden macht, um sich zu bewähren und den Job behalten zu können. Der Arbeitsmarkt in Spanien ist angespannt. Die Stelle relativ gut bezahlt. Maria hat zwar durch ihre Selbstständigkeit Erfahrung im Marketing, jedoch keine formale Qualifikation.

Wieder wacht sie nachts auf, kann kaum schlafen. Ihr bleibt die Luft weg. Sie ist sich bewusst, dass es Panikattacken sind. Sie versucht, sich selbst mit Gesprächen und Reflexion zu helfen. Vergeblich.

Sie ist schon zu tief in der Panikspirale drin. Bastian Willenborg, ärztliche Direktor an der privaten Oberberg-Fachklinik Berlin-Brandenburg, erklärt: „Gerade Menschen, die sich sehr auf ihren Job fokussiert haben, denen Hobbys und Familie nicht so wichtig sind, leiden besonders unter einem drohenden Jobverlust.“

Kommen weitere Stressoren dazu, wird die Angst unerträglich. Besonders perfide: Nicht nur Streit oder die Trennung vom Partner können stressen, sondern auch glückliche Ereignisse wie die Geburt eines Kindes oder eine Beförderung.

Es beginnt eine Panikspirale, die im Extremfall tödlich enden kann, was Studien belegen. In der Finanzkrise 2007 etwa steigt die Zahl der Selbstmordopfer in Europa und den USA um zehn Prozent.

Atemnot ist ihr persönlicher Alarm

Maria hält es in Spanien nicht mehr aus. Sie zieht zurück nach Deutschland. Mittlerweile ist Winter 2016. Die Atemnot wird immer schlimmer. Sie kann kaum noch allein vor die Tür gehen. Als sie keinen Ausweg mehr weiß, ruft sie ihre ehemalige Therapeutin an. Sie bekommt erneut einen Platz unter einer Bedingung: Maria muss versprechen, die nächsten Jahre in der Nähe wohnen zu bleiben.

Langsam durchforsten sie gemeinsam ihre Kindheit, ihre gelernten Mechanismen, bearbeiten Themen wie unterdrückte Wut, übertriebene Erwartungshaltung. Es wird besser.

Maria fasst neuen Mut. Sie bewirbt sich an einer Universität, will Kunst studieren. Auch ohne Abitur wird sie wegen ihrer herausragenden künstlerischen Leistungen, die sie in der Aufnahmeprüfung gezeigt hat, angenommen.

Die Atemnot ist weiterhin da, ihr täglicher Begleiter. Sie ist seltener und weniger stark. Maria hat sie mittlerweile akzeptiert und angenommen. Es ist ihr persönlicher Alarm dafür, dass gerade etwas schief läuft. Denn wenn ihr die Luft wegbleibt, schaut sie heute ganz genau hin.

Mehr: Was die Jobangst mit uns macht und was dagegen hilft.