Professionelle Distanz im Job

„Hey Chef!“ Scheinbar duzt heute jeder jeden. Dabei wird vergessen, dass Siezen die Arbeit erleichtert – nicht nur für Führungskräfte.

Jenny Niederstadt | 02.12.2021

Normalerweise ist Günter Althaus ein recht entspannter Typ, aber ein Thema regt den Chef des international tätigen Handelsverbunds ANWR Group regelmäßig auf: der Kult ums Duzen.

Das Verhalten vieler seiner Managerkollegen sei „geradezu anmaßend“, sagt Althaus: „Ich halte es schlicht nicht für zulässig, dass der Arbeitgeber seinen Mitarbeitern vorschreibt, wie sie sich gegenseitig anreden.“ Er selbst duzt von etwa 600 Mitarbeitern in 14 europäischen Ländern allenfalls ein knappes Dutzend Kollegen. Aber vor allem deshalb, weil er sie schon lange kennt. Im Vorstand verständigen sich die Mitglieder erst nach vier Jahren aufs Du, sagt Althaus. Gegenüber der Belegschaft schaffe hingegen das Siezen eine professionelle Arbeitsebene. So sei sichergestellt, dass bestimmte Regeln im Umgang miteinander gewahrt bleiben. Althaus: „Negatives Feedback zum Beispiel wird dann nicht unnötig scharf und persönlich.“

Das Sie als sprachlicher Distanzwahrer

Der Manager mag eine Ausnahme sein, aber er hat zahlreiche Wissenschaftler auf seiner Seite. Denn tatsächlich warnt eine Reihe von Forschern inzwischen sogar vor dem Zwang zum Du am Arbeitsplatz, und zwar aus mehreren Gründen: Die vertrauliche Anrede passt nicht zu jedem Unternehmen; sie liegt nicht jedem Angestellten; und sie erschwert das gegenseitige Miteinander – sowohl für den Chef als auch für dessen Mitarbeiter.

Denn so offensichtlich die Vorteile des Duzens sein mögen, so deutlich zeigen sich im Alltag die Tücken der verbalen Nähe. Und zwar nicht nur, weil diese Offenheit häufig nur vorgetäuscht ist, was Mitarbeiter wiederum frustrieren kann. Viele Führungskräfte reagieren ebenfalls verunsichert auf die sprachlich aufgehobenen Hierarchien.

In anderen Ländern erlebt das Sie daher gerade eine Renaissance – ausgerechnet in Schweden. Die dortigen Weltkonzerne wie Ikea oder H&M schreiben ihren Mitarbeitern den zwanglosen Ton bereits seit Jahren vor, duzen alle Kunden und begeistern damit viele Touristen. Schweden duzen inzwischen sogar das Finanzamt. Vielleicht haben sie es mit der sprachlichen Nähe etwas übertrieben. Denn in Schweden lebt das „Ni“ wieder auf – eine Anrede, die früher der Adel nutzte. Vor allem jüngere Menschen benutzen es, beobachtete der nationale Sprachrat vor einigen Jahren.

Duzen nicht als Angebot, sondern als Zwang

In vielen deutschen Unternehmen hingegen geht es häufig ganz schön lässig zu. In einer Zeit, in der selbst Dax-CEOs wie Dieter Zetsche (Daimler) oder Oliver Bäte (Allianz) bei öffentlichen Auftritten Turnschuhe und Jeans tragen, verändert sich auch die Kommunikation. Die Vorstände des Hamburger Versandhändlers Otto boten im vergangenen Jahr der Belegschaft geschlossen das Du an. Johann Jungwirth, Digitalchef des Volkswagen-Konzerns, verkündete, er lasse sich am liebsten mit seinen Initialen „J. J.“ anreden. Und Klaus Gehrig, Chef der Schwarz-Gruppe, zu der unter anderem Lidl gehört, erklärte per Mail, dass sich im Konzern künftig alle Mitarbeiter beim Vornamen anreden dürften: „Gruß, Klaus.“ 

Sollte das ein Angestellter lediglich als unverbindlichen Vorschlag verstanden haben, wurde Gehrig später noch mal deutlicher. Wer sich nicht duzt, isoliere sich: „Das sind nicht die Leute, die wir brauchen.“ Internationale Konzerne geben sich ebenfalls betont locker. Beim spanischen Mobilfunkanbieter Telefónica zum Beispiel duzen selbst die Auszubildenden ihren Chef. Inspiriert vom scheinbar familiären Geist der Digitalkonzerne aus dem Silicon Valley, ist die informelle Anrede heute weitverbreitet. In jedem dritten deutschen Unternehmen wird bereits quer durch alle Hierarchien geduzt, ergab vor einigen Monaten eine Studie der Unternehmensberatung Kienbaum und des Karriereportals Stepstone.

Das liegt zu einem guten Teil an der Gründerszene – und an Menschen wie Louis Pfitzner. Vor fünf Jahren gründete der heute 37-Jährige in Berlin zusammen mit zwei Geschäftspartnern die Onlineplattform Salonmeister, die heute unter dem Namen Treatwell Friseur-, Kosmetik- oder Massagetermine in mehr als 20.000 Salons europaweit vermittelt. Pfitzner ist als Geschäftsführer Chef von 60 Mitarbeitern. Wie in der Start-up-Szene üblich, duzt er sich mit allen. Mit Gesprächspartnern einigt er sich meist schon nach wenigen Sätzen darauf, dass man sich doch auch duzen könne.

Bevor er sich selbstständig machte, arbeitete Pfitzner bei der Investmentbank Lehman Brothers in London. Nach der Pleite der Bank im Zuge der Finanzkrise fuhr er für die Organisation Ärzte ohne Grenzen auf Einsätze, dort sprachen die Kollegen überall Englisch. Das einheitliche „you“ überzeugte ihn. Die Gespräche fänden „automatisch auf Augenhöhe statt“ und seien unkomplizierter als auf Deutsch. Heute ist er deshalb selbst mit jenen Investoren per Du, die aus Traditionskonzernen stammen. „Denen gefällt es, dass es bei uns nicht so formell zugeht“, sagt der Gründer, „daher lassen sie beim nächsten Termin auch mal die Krawatte weg.“ Nun könnte man die neue Lässigkeit durchaus begrüßen. Denn der moderne Chef soll nicht mehr über die Angestellten herrschen wie ein König über sein Volk. Und wo alle enger zusammenrücken und dadurch auch sprachliche Barrieren fallen, entstehen Nähe und Wärme, von denen alle profitieren können. Könnte man meinen.

Wandel in der Unternehmenskultur

Albert Klein hat daran so seine Zweifel. Der Vorsitzende der Geschäftsführung des Versandhändlers Baur wollte eigentlich der Politik des Mutterkonzerns Otto folgen. Deshalb bot er beim Mittagessen sogar Praktikanten das Du an. „Eine ziemlich große Umstellung“, sagt der 60-jährige Manager. Er entstammt einer Generation, für die es undenkbar war, Vorgesetzte zu duzen – alleine schon aus Respekt.

Unternehmen wie die Otto Group hoffen, mit der neuen Sprachregelung einen Wandel in der Firmenkultur anzustoßen: Diskussionen und Absprachen sollen direkter ablaufen, sodass Mitarbeiter sich im Optimalfall eher trauen, Kritik oder Ideen zu äußern. Damit will der Versandhändler schneller reagieren, auf Wünsche der Kunden ebenso wie auf Vorschläge der Mitarbeiter.

Bei derartigen Gesprächen kann ein Sie tatsächlich hinderlich sein, sagt Tim Hagemann, Arbeitspsychologe an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld. Dennoch sieht er den Ansatz kritisch: „Ein Kulturwandel lässt sich nicht von oben verordnen“, sagt Hagemann, „schon gar nicht durch eine rein sprachliche Neuregelung, wenn sonst alle Strukturen gleich bleiben.“ Vorstellbar ist für ihn eher der umgekehrte Weg: Hat ein Unternehmen Hierarchien bereits abgebaut, kann danach die Einführung des Dus naheliegen – in Absprache mit den betroffenen Kollegen. Ob dieser Schritt aber in einem Konzern mit Tausenden von Mitarbeitern sinnvoll ist, bezweifelt Hagemann. Große Unternehmen bräuchten nun einmal klare Regeln, wer entscheidet: „Ein Du würde hier eine Gleichheit von Chef und Mitarbeitern vorgaukeln, die im Zweifelsfall aber gar nicht gilt.“ 

Mit der Nähe geht die Neutralität verloren

Stattdessen betont der Psychologe, dass das Siezen Vorteile für beide Seiten hat: Vielen Führungskräften falle es dann leichter, Verhalten zu kritisieren, Fehler anzusprechen oder unbeliebte Aufgaben zu verteilen. Umgekehrt klären auch viele Angestellte sensible Fragen lieber auf einer neutralen Siez-Ebene – eine Bitte des duzenden Chefs, etwa nach Überstunden und Wochenendarbeit, können manche Mitarbeiter schlechter abweisen. Denn Menschen, die uns scheinbar nahestehen, wollen wir nicht enttäuschen.

Umfragen bestätigen das Unbehagen gegenüber dem Du am Arbeitsplatz: Zwei Drittel aller Deutschen lehnen das Duzen zwischen Chef und Mitarbeitern ab, ergab eine Studie des Marktforschungsinstituts GfK aus dem Oktober 2016. Besonders groß sind die Vorbehalte in den Metropolen: In Berlin und Hamburg stören sich etwa 90 Prozent aller Befragten an der vertraulichen Anrede, wenn sie vom Vorgesetzten oder von Untergebenen kommt. Das Duzen unter gleichrangigen Kollegen dagegen findet bundesweit mit 88 Prozent breite Zustimmung.

Sprachsoziologen können das erklären: „Traditionell duzen wir Deutschen nur Menschen, die uns nahestehen oder zu denen wir eine gewisse Verbundenheit entwickelt haben“, sagt Leo Kretzenbacher, deutschstämmiger Linguistikdozent an der Universität Melbourne. Fremden gegenüber scheint uns dagegen meist ein Sie angebracht. „Das zeugt zwar von einer gewissen Distanz“, sagt er, „ist aber meist nicht abweisend gemeint, sondern als Zeichen des gegenseitigen Respekts – schließlich wurden im Deutschen historisch gesehen Erwachsene oft nur einseitig von oben herab geduzt.“ 

Außerdem verbinden wir mit einem Sie stets eine gewisse Ernsthaftigkeit – ein Du beim Bankberater oder dem Rechtsanwalt würde unseriös wirken. Sprachforscher Kretzenbacher vermutet hinter dem deutschen Widerwillen gegenüber dem Du am Arbeitsplatz kulturspezifische Vorlieben. „Weltweit hat jede Gesellschaft ein unterschiedliches Maß an Nähe entwickelt, das sie als angenehm empfindet – auch sprachlich.“ 

Andere Länder, andere Sitten

Beobachtungen der Linguistin Bettina Kluge von der Universität Hildesheim bestätigen diesen Befund. Die Franzosen etwa halten an ihrer Höflichkeitsform „vous“ fest – und siezen sich selbst in Internetchats häufiger als die Deutschen.

Italiener und Holländer dagegen amüsieren sich über Deutsche, die sich nach Jahren des Geschäftskontakts gegenseitig siezen, weil sie auf eine passende Gelegenheit bei einem persönlichen Treffen warten. Sie selbst sind meist schon nach ein paar freundlichen Mails beim Du. Sogar die oft als steif geltenden Österreicher duzen sich im Berufsalltag schneller als Angestellte hierzulande.

Für einen derartigen Abgleich kennt die vermeintlich einfache englische Sprache viele Feinheiten: Ob man sich mit Vorname, Nachname oder Spitzname anredet, kann da zum Politikum werden. „Gesellschaften mit einer starken Duz-Kultur entwickeln einfach andere sprachliche Tricks, um die soziale Stellung untereinander zu klären“, sagt Kluge. Auch per Du bleibt es also kompliziert. Darüber machten sich aber viele Deutsche Illusionen, wenn sie neidisch aufs englische „you“ schauen, so Kluge.

Entscheidend ist das Verhältnis untereinander 

Der Verzicht aufs Siezen vereinfacht die Kommunikation deshalb nicht zwangsläufig, warnt Experte Kretzenbacher. „Wer glaubt, per Du gehe es automatisch legerer zu, irrt gewaltig. Die sprachlichen Fettnäpfchen stehen einfach nur woanders.“ 

Das hat Udo Witte ebenfalls erlebt. Der heutige Geschäftsführer des niederländischen Konzerns Aalberts Industries Industrial Services startete seine Karriere in Australien. Sein Englisch war bereits passabel, die sprachlichen Details wollte sich Witte bei den Kollegen abschauen. „Deshalb habe ich auch Formulierungen meines damaligen Chefs übernommen“, sagt Witte. In E-Mails ließ er sich zum Beispiel vom Tonfall seines Vorgesetzten inspirieren– und galt deshalb schnell als der ungehobelte Deutsche, der Leute von oben herab behandelt. Das hätte den Manager fast seinen Job gekostet. Witte paukte daraufhin noch einmal Business-Englisch, um derartige Fauxpas zu verhindern. Gelernt hat er daraus, dass ein Du oder Sie im Joballtag nicht allein entscheidet. Wichtig sei der faire, respektvolle Umgang miteinander. Und der könne per Du genauso gut gelingen wie per Sie, sagt Witte. Entscheidend sei die Persönlichkeit einer Führungskraft. „Wer zwingend ein Sie braucht, um vor seiner Mannschaft zu bestehen, stellt sich selbst ein Armutszeugnis aus. Genauso verwandelt ein Du keinen autoritären Vorgesetzten in einen Teamplayer.“ 

Davon ist auch Carsten Mickeleit überzeugt. Er ist Gründer und Vorstandsvorsitzender der Cortado Holding, eines Berliner Softwarehauses. Alle 200 Mitarbeiter dürfen ihn duzen, egal, ob Vorstandskollege oder Auszubildender. Für Mickeleit kein Problem: „Man kann als Führungskraft respektvoll duzen und angemessenen Abstand wahren.“ Dann ließen sich selbst Kündigungen per Du aussprechen. „Entscheidend ist das Verhältnis untereinander“, sagt Mickeleit, „und nicht die Anredeform.“


Zuerst veröffentlicht auf: wiwo.de