Interview mit Bildungs- und Jugendforscher Klaus Hurrelmann: Psychogramm der Jugend: Auf der Suche nach Sinn und Freiräumen

Sicherheit sucht die Generation Y, weil sie in ihrer Jugend den Terror erlebt hat. Die Generation Z hat eher ihre Selbstverwirklichung im Blick.

Anne Koschik | 22.12.2019
Die Generationen X und Y haben unterschiedliche Erfahrungen gesammelt und bringen sie in ihre Arbeitswelt ein.

Die Jugend Die Generationen X und Y haben unterschiedliche Erfahrungen gesammelt und bringen sie in ihre Arbeitswelt ein. © toa heftiba unsplash

Mit unterschiedlichen Ansprüchen suchen sich die Generationen Y und Z ihre Arbeitsplätze aus. Das liegt auch an den Erfahrungen und Erlebnissen in ihrer Kindheit, sagt Bildungs- und Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Karriere.de sprach mit dem Professor of Public Health and Education der Hertie School of Governance über die Karrierevoraussetzungen, die Beliebtheit des Beamtentums, die Politisierung im Zuge der Klimadiskussion, die Ikone Greta Thunberg und die Veränderungen in den Unternehmen, die die Generationen heraufbeschwören.

Die Generation Y haben Sie in Ihrem Buch „Die heimlichen Revolutionäre“ als leise agierende, radikale Veränderer beschrieben. Wie unterscheiden sich davon die Generation Z und die gerade heranwachsende Generation Alpha?

Vorsichtige Zurückhaltung und offensive Forderung stehen sich gegenüber. Das Jahr 2000 trennt dabei die Generationen. Wer davor geboren wurde, ist in einer Zeit groß geworden, in der nichts sicher war: Die Generation Y hat in ihrer Kindheit und Jugend den Terror erlebt, sinnbildlich in 9/11, sie hat die Weltwirtschaftskrise mitbekommen und die Angst von Fukushima. Der Arbeitsmarkt war spröde. Alles zusammen hat sich auf die jungen Leute ausgewirkt. Sie agieren vorsichtig, kümmern sich vor allem um sich selbst und haben Interesse daran, ihre Karrierevoraussetzungen zu optimieren.

Und was machen die nach 2000 Geborenen anders?

Der Arbeitsmarkt stellt sich für sie viel besser dar. Es gibt eine ziemliche Sicherheit, in Ausbildung und Beruf zu kommen. Die jungen Menschen erkennen eine sehr gute Perspektive für sich, das wird auch in der neuen Shell-Jugendstudie sichtbar, für die ich mitverantwortlich zeichne.

Sicherheit ist für die jetzt Zwölf- bis 25-Jährigen ein großes Thema, dass sich eben auch in der Berufstätigkeit manifestiert, zusammen mit Selbstverwirklichung und Erfüllung und weiteren wirtschaftlichen Aspekten. Sie wünschen sich ein gutes Betriebsklima und wollen dazugehören.

Die Jugend artikuliert auch wieder politisch, ohne aber die großen Wirtschafts- und Politikfragen aufzugreifen. Wie schon in früheren Zeiten hat sie die Klimakrise neu entdeckt. 45 Prozent dieser Generation ist für die Umwelt aktiv. Da hat sich das Bild der jungen Generation gerade wieder komplett neu entwickelt.

Woran liegt das?

Umwelt und Klimakrise sind bedeutsame Themen, die die existenzielle Grundlage des Lebens darstellen – und aus der sich im Sinne von Nachhaltigkeit weitere wirtschaftliche Fragestellungen ergeben. Dass die Generation Y weniger damit befasst war beziehungsweise es verdrängt hat, liegt an den Terroranschlägen und der Wirtschaftskrise, die unmittelbar gewirkt haben.

Wie entstehen bei der jetzigen Generation Vertrauensverluste?

Wenn Firmen ihrer hohen ethischen Ansprüche nicht erfüllen, wird das problematisch. Oder wenn sie gegen Umweltaspekte verstoßen. Oder ausbeuterisch wirken. Nachhaltigkeit und Fairness, darauf kommt es heute an. Junge Menschen, die die Wahl haben, wählen das in ihren Augen Bessere.
Was sehr zugenommen hat, ist, dass Vertrauen in solche Unternehmen wächst, die sich in ihrer Leistung messen lassen, die transparent sind, die Politik des Unternehmens nicht verheimlichen, eine klare Perspektive haben und eindeutig in ihren Informationen sind.

Was bedeutet diese Erkenntnis für das Arbeitsleben, in dem es einerseits aufgrund des Fachkräftemangels in verschiedenen Branchen einen neuen Bewerbermarkt gibt, andererseits die Befristung von Arbeitsverträgen zur Normalität gehört?

Für fast 50 Prozent der jungen Leute ist es heute bereits Standard geworden, dass ihre Arbeitsverträge zunächst nur befristet sind. Im Umkehrschluss bedeutet das: Unternehmen, die ohne Befristung auskommen, punkten bei dieser Generation. Wer jungen Menschen also eine Alternative mit einem interessanten Geschäftsfeld und Sicherheit bietet, hat gute Karten in Zeiten des Fachkräftemangels. Das ist übrigens auch das eigentliche Geheimnis am Erfolg des Beamtentums – die berufliche Garantie.

Beamtentum kommt wieder in Mode. Das zeigen diverse Studie zu Top-Arbeitgebern. Findet die Generation hier denn auch Sinn und Erfüllung im Job?

Sinn und Erfüllung – das ist vor allem wichtig für die Berufserstauswahl. Und der Beamtenberuf hat da eindeutig aufgeholt, ist aus der Negativnische heraus. Die Polizei zum Beispiel ist bei der Jugend der beliebteste Arbeitgeber.

Hinzu kommt, dass der öffentliche Dienst nicht nur ein sicherer Arbeitgeber ist, sondern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht.

Hier kommen die jungen Frauen ins Spiel. Sie haben in letzter Zeit sehr aufgedreht, schaffen besser Abschlussnoten als die jungen Männer, sind für die Umwelt aktiv, interessieren sich für Gesundheit und Ethik. In ihrem Urteil sind sie strenger als Männer, was mit ihrem sehr hohen Bildungsgrad zusammenhängt. Sie sind wichtig, möchten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und sie müssen das erwarten können, denn sie treten in die Verantwortung.

Die Bedeutung des Privatlebens gegenüber dem Job nimmt deutlich zu, Work-Life-Balance ist mehr als ein Modewort. Wird sich diese gesellschaftliche Forderung nach mehr Freiheit bei gleichen Gehaltsansprüchen halten können?

Das ist sogar wichtig für die Unternehmenspolitik. Denn gut 60 Prozent der Generation Z ist hoch attraktiv für die Firmen. Freiräume müssen eingestanden werden, Homeoffice, flexible Arbeitszeiten. Frauenförderung wird eine echte Chance haben.

Work-Life-Blending, wie wir es gerade als Ideal erleben, hat bald ausgedient: Die Vermischung von Arbeit und Berufsleben und ständige Erreichbarkeit sind nicht mehr gewünscht. Das wird als Ausbeutung empfunden. Vor der 24/7-Welt besteht regelrechte Angst. Die strengere Trennung von Arbeit und Berufsleben wird wieder bedeutender. Dabei kommt es der Generation Z weniger auf pauschale Regelungen an. Die große Kunst liegt heute darin, viele individuelle Regeln zu treffen und auf die Lebensweise des Einzelnen einzugehen.

Ebnet die Digitalisierung der neuen Generation, die mit ihr aufwächst, den Weg oder stellt sie eine Gefahr dar?

Es ist für diese Generation sogar absolut selbstverständlich, dass alles digital läuft. Sorge oder Angst davor hat sie nicht. Eine große Irritation besteht bei ihnen eher dadurch, dass Schulen nicht wirklich digital sind. 41 Prozent aus dieser Gruppe der bis zu 25-Jährigen hält auch die Lehrer für inkompetent. Für sich selbst wünschen sich die jungen Menschen, ihre digitalen Fähigkeiten jederzeit durch Weiterbildung oder Trainings ausbauen zu können.

Unternehmen können Nachwuchsführungskräfte zum Beispiel schnell über digitale Fähigkeiten für sich gewinnen.

Nicht-Führungsbereitschaft und intuitives Teamwork in agilen Strukturen sind Schlagworte, die für die neuen Generationen prägend sind. Ist das nur eine Übergangserscheinung?

Die junge Generation befindet sich da in einer Ambivalenz. Sie scheut die Verantwortlichkeit vor allem aus zwei Gründen: Wer Führungsaufgaben übernimmt, hat erstens seine Arbeitszeit nicht mehr unter Kontrolle und muss zweitens nicht geliebte Tätigkeiten ausüben. Worauf es ihr ankommt, ist es also, Freiheit über den persönlichen Spielraum von Arbeitszeit und Arbeitsinhalt zu besitzen. Außerdem geht es um Wertschätzung: „Du bist gemeint“ oder „Wir schätzen dich als wertvollen Mitarbeiter“ sind Sätze, die junge Leute gerne hören.

In Gefolge von Greta Thunberg ist eine neue Lust an der (lauten) Revolution zu erkennen. Wohin führt der Weg?

Greta ist für die Generation eine Ikone. Sie macht deutlich, wo es langgeht und symbolisiert die Stärke der Frauen. Greta ist die Metapher für die Generation Z. Wir haben es mit sturen Verhandlungspartnern zu tun, die in ihrem politischen Handeln nicht eigennützig vorgehen und nach Plan agieren, sich zu Wort melden, auch laut werden und sich auf jeden Fall Gehör verschaffen, um die gesellschaftlichen Verhältnisse explizit zu verändern.

Zusammen mit der Generation Y wird die Generation Z aber vor allem die Unternehmen verändern, angefangen beim Betriebsklima über die Mitarbeiterbeteiligung, in Teamwork und Individualisierung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie bis zu den Führungsstrukturen. Und Digitalisierung wird für sie dabei ganz normal sein.

Mehr: Junge Chefs unterscheiden sich deutlich von der alten Manager-Garde. karriere.de zeigt zwei Beispiele und erklärt, was künftig im Führungsalltag wichtig wird.