Erfahrungsbericht : Wieso ein Unternehmer auf einer Corona-Station arbeitete

Mit einer Leiharbeitsfirma will ein Jungunternehmer die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern. Doch die Pandemie macht es ihm schwer.

Angelika Ivanov | 19.11.2021
Der ausgebildete Pfleger und Unternehmer Michael Rainer* wollte sich während der Pandemie nützlich machen und ging zeitweise zurück ans Bett.

Corona-Station in NRW I Der ausgebildete Pfleger und Unternehmer Michael Rainer* wollte sich während der Pandemie nützlich machen und ging zeitweise zurück ans Bett.

Eigentlich sollten seine Mitarbeiter, 13 Kranken- und Altenpfleger, die Helden der Stunde sein. Nun steht der 33-jährige Unternehmer Michael Rainer* kurz davor, alle entlassen zu müssen.

„Es klingt absurd. Aber wenn die Pandemie ausbleibt, bin ich bald pleite“, sagt Rainer Anfang April, der 2018 eine Leiharbeitsfirma für Pflegepersonal gegründet hat. Aus Berufung. Rainer gehört nicht zu den Ausbeutern im viel gescholtenen Leiharbeitersystem. Er nutzt das Modell Leiharbeit, um seinen Mitarbeitern je nach Qualifikation mindestens 2300 Euro Gehalt zu zahlen. Er orientiert sich dabei am Tarifvertrag der Caritas und der Helios-Kliniken – und legt noch sechs Prozent drauf.

In diesem Artikel möchte er jedoch lieber anonym bleiben, um seine persönliche Sicht auf die Pflegebranche offenzulegen. Denn er hat ein Ziel: Die Pflege nachhaltig verbessern. Denn die Zustände seien weder Patienten noch Pflegern zuzumuten.

Der Jungunternehmer befindet sich zurzeit im Schwebezustand. Seit dem Ausbruch der Coronakrise kündigten die Kliniken seine Verträge auf. Zusätzliche Kräfte wie die von Rainers Firma wurden obsolet. Der Grund: Geplante Operationen und Untersuchungen ohne akute Not wurden verschoben, um Kapazitäten für Patienten mit Covid-19 zu schaffen. Der Krankheit, die durch das Coronavirus ausgelöst wird.

Aber anders als in Italien und den USA blieb der Massenkrankenstand in Deutschland aus. Zum Glück. Für Rainer bedeutet es vermutlich das wirtschaftliche Ende.

Doppelt im Einsatz: Mal Unternehmer, mal Pflegekraft

Während das öffentliche Leben im Lockdown verschwand, ging seinem Unternehmen langsam das Geld aus. Unsicherheit und Panik machten sich breit. Doch Rainer ist ein Macher, keiner der leicht aufgibt. Allein schon, weil er das System verändern will. Da er sein Unternehmen gerade kaum retten konnte, meldete sich der ausgebildete Krankenpfleger kurzerhand selbst als Vollzeitkraft auf einer Corona-Station in einem Klinikum in NRW. „Am Bett werde ich gerade mehr gebraucht“, sagte er. Er übernahm die Spätschicht. So konnte er sich von 8 bis 13 Uhr um seine Firma kümmern. Ab 14 Uhr war er auf Station.

„Die Zustände und Abläufe sind chaotisch,“ sagt Rainer nach zwei Wochen im Dienst während einer kurzen Pause. Wie überall fehlt es an Schutzkleidung. „Gefährlich“, findet er. Doch daran könne gerade niemand etwas ändern. Man müsse warten, bis die zusätzlichen Produktionen anlaufen. Was man allerdings ändern könnte, sind die Arbeitsabläufe.

Rainer stellt fest, dass Übergaben nicht protokolliert wurden. Kommt jemand in eine spätere Schicht, weiß er oder sie nicht, was besprochen wurde. Das sei eines der vielen Probleme der Pflege. Gerade zwischen den Hierarchien, also von der Pflegedirektion bis zum Pflegeschüler, fehle die Kommunikation auf Augenhöhe. „Ich weiß, warum ich den Beruf verlassen habe“, sagt er.

Führungskräfte gefordert: Mitarbeiter sind Ressource, kein Kostenpunkt

„Die Führungskräfte bemerken das aber nicht, da sie den Kontakt zur Belegschaft verloren haben. Eine klassische Führungsblase“, sagt er. Das müsse ein Ende haben. Helfen könnten mehr Supervisionen und ehrliche Kommunikation. Doch wer nimmt sich schon die Zeit angesichts der hohen Arbeitsdichte?

Elementar sei für ihn aber eins: das Grundverständnis der Branche gegenüber dem Pflegepersonal. „Statt Mitarbeiter als Kostenpunkt zu betrachten, sollten wir sie als Ressource sehen“, sagt er. Diese müsse wertgeschätzt und gefördert werden. „Verschleißt man diese, kann irgendwann auch kein Geld verdient werden“, so der Unternehmer.

Pflegenotstand live: „Alle sind schuld, aber niemand ist schuldig”

Diese Überzeugung speist sich aus vielen Momenten aus dem Pflegealltag. Einer ist ihm besonders in Erinnerung geblieben und beschäftigt ihn bis heute. Da ging es um das operative Einsetzen eines Stents – das ist ein kleines rohrförmiges Drahtgeflecht, das in ein erkranktes Herzkranzgefäß implantiert wird, um den Blutfluss zu verbessern. Die OP war strittig. Im Hinterzimmer hörte Rainer den Arzt sagen: „Ich muss sie machen, um auf meine Zahlen zu kommen.”

Pflegeschüler wurden vor seinen Augen gelobt, weil sie sich freiwillig für die Corona-Station gemeldet haben. Auf Nachfrage erfährt er: „Ihnen hat niemand gesagt, dass sie ganz viele Tote sehen werden, wenn sie länger bleiben”. Darauf sei niemand vorbereitet. Niemand werde richtig informiert.

Auf einer normalen Station müsse manchmal nachts eine Pflegekraft 45 Patienten versorgen. Wenn ein Notfall ausbricht, ist das noch machbar. Aber was, wenn plötzlich vier oder fünf Menschen kollabieren?

Es gebe schlicht zu wenig Personal. Diejenigen, die noch da sind, fühlen sich ausgebrannt, energielos. Schlechte Führung, keine Entscheidungstransparenz, Chaos. „Das hat nichts mit Corona zu tun”, sagt er. „Das ist immer so.“

Rainer nennt es ein „fremdgesteuertes System“. Sein Fazit: „Alle sind schuld, aber niemand ist schuldig.” Denn Entscheidungsträger fühlten die Auswirkungen der schlechten Kommunikation selten. Die Pfleger hingegen setzen sich selten zur Wehr.

Fehlende Wertschätzung: Nachwuchs bleibt aus

Ein Grund dafür ist, dass in der Pflege hauptsächlich Menschen arbeiten, die bereits durch viele andere Raster gefallen sind. Auch Schulabbrecher oder Migranten. Mehr als jede vierte Ausbildung zur Altenpflegefachkraft wird als Umschulung von der Bundesagentur für Arbeit gefördert. Denn der Job in der Pflege ist finanziell unattraktiv. Laut Gesundheitsministerium verdienen Fachkräfte in der Pflege 2600 Euro brutto.

Bei einem Singlehaushalt bleiben knapp 1700 Euro netto – für Wechselschichten, Überstunden, harte körperliche und seelische Arbeit. Da braucht es schon viel Motivation, um bei der Sache zu bleiben.

Gleichzeitig wurde in der Coronakrise deutlich, wie wichtig der Beruf ist. Wie oft wurde betont, dass dies doch die systemrelevanten Jobs seien. Nicht die Banker, wie noch in der Krise 2007 angenommen. Doch wie es aussieht, könnten bereits in fünf Jahren 110.000 Pflegekräfte fehlen, hat das statistische Bundesamt errechnet. Es sieht schlecht aus für Deutschlands Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen.

Neue Standards für die Aus- und Weiterbildung: Potenzial heben

Die schlechten Zahlen sprechen für Rainers Ansatz: Er will weiterhin dafür arbeiten, die Zustände in der Pflege zu verbessern. „Auch wenn es sich wie ein Kampf gegen Windmühlen anfühlt,” sagt er.

Besonders wichtig sei ihm, eine bessere Qualität der Ausbildung, mehr Geld für das Personal und bundesweite Tarifverträge durchzusetzen. Lohndumping soll es nach seinen Plänen nicht mehr geben.

Er ist überzeugt, dass viel Potenzial brach liegt. Denn es fehlen klare Standards für Aus-, Fort- und Weiterbildungen. Außerdem könnten auch akademische Pflegeberufe und die Entwicklung einer hochspezialisierten Pflege – vergleichbar mit der Spitzenforschung oder Medizin – den Beruf attraktiver machen und etwa Menschen anziehen, die Interesse am Medizinstudium oder anderen Heilberufen haben.

„Der Slogan der Politik Pflegen kann jeder führt nur dazu, dass der Bildungsstandard und die Qualität sinken“, sagt er. Deswegen sei es so wichtig, die Vergütung an die hohe Verantwortung und Leistung des Pflegepersonals anzupassen.

Aus Erfahrung und Liebe zum Beruf: Änderungen sind nötig

Sein Antrieb ist die Liebe zum Beruf. Nach dem ersten Kontakt im Zivildienst gefiel ihm der Beruf des Pflegers so gut, dass er eine Ausbildung anschloss. Er absolvierte das Fachabitur, wurde examinierter Gesundheits- und Krankenpfleger, arbeitete mehr als zwei Jahre in einem Helios Klinikum in NRW. Nach und nach wurde ihm klar, dass die Zustände im Krankenhaus keineswegs dem entsprachen, was er gelernt hat.

Also bildete er sich fort. Studierte Pflegewissenschaften, machte den Fachwirt für „Gesundheits- und Sozialwesen”. Dabei ist er „kein Unityp“, sagt er von sich selbst. Theoretische Modelle durchzurechnen sind sein Albtraum. Er macht lieber. Redet mit Menschen. Kümmert sich.

Seine kaufmännische Zusatzausbildung ermächtigt ihn, gerade da Einfluss zu nehmen, wo es ihn stört: Bei den Personalentscheidungen und in der Organisation. Weil er keinen Arbeitgeber fand, der ihn zufrieden stellte, gründete er 2018 eine Leiharbeitsfirma für Pflegekräfte. Das Feedback war gut. Nach einem halben Jahr schrieb er bereits schwarze Zahlen.

Gerade Anfang des Jahres hatte er eine Wohnung als Büro für die Firma gepachtet, die er bis zu diesem Zeitpunkt aus dem Zimmer in der WG mit seinen Kumpels steuerte. Doch dann kam Corona. Von 13 Mitarbeitern sind sechs geblieben.

Jetzt versucht er, vorzeitig aus dem Pachtvertrag entlassen zu werden. Neue Jobangebote gibt es auch. Doch ihn beschäftigen seine Mitarbeiter. Noch weiß er nicht, wie es weitergehen wird.

Was er aber weiß: Die Vision von einer besseren Pflege ist klarer denn je.

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