Mitarbeiterschutz: „70 Prozent hatten schon mal mit sexueller Belästigung zu tun”

Vor allem in kleinen Unternehmen wird das Problem oft totgeschwiegen.

dpa | 24.09.2019
Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vorzugehen.

Klare Grenze Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vorzugehen. Foto: Imago Images / MiS

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz kommt häufiger vor, als gedacht – sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Die Sanktionen der Unternehmen sind größer geworden. Doch das reicht noch nicht.

„Die Bereitschaft der Unternehmen ist gestiegen, sexuelle Belästigung zu sanktionieren”, berichtet der Sprecher der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Sebastian Bickerich.

Aber was passiert konkret bei den Firmen? Wer ist besonders gefährdet und wie können sich Opfer schützen?

Wen es trifft:
Freie Mitarbeiter oft schutzlos

Klar scheint, dass es alle Wirtschaftszweige trifft. „Das Thema zieht sich durch alle Branchen”, sagt Bickerich. Besonders schwierig sei die Lage im Berufsalltag für Menschen ohne Festanstellung, etwa im Journalismus oder in der Kunst.

„Für freie Mitarbeiter gibt es relativ wenig Schutz. Ihr Auftraggeber ist nicht ihr Arbeitgeber.”

Stefanie Geyer, Ressortleiterin Frauen- und Gleichstellungspolitik beim Vorstand der IG Metall, sagt: „Es ist wichtig, dass Arbeitgeber klar machen, dass sexuelle Belästigung nicht geduldet wird und Folgen hat, bis hin zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen.”

Wer in der Pflicht ist:
Alle Unternehmen per gesetzlicher Verpflichtung

Was nicht jeder weiß: Firmen sind gesetzlich dazu verpflichtet, sexuelle Belästigung zu verhindern und eine Beschwerdestelle einzurichten.

„Vor allem bei kleineren und mittleren sehen wir hier allerdings noch Nachholbedarf”, sagt Bickert. Große Konzerne sind da oft schon weiter.

Volkswagen, die Deutsche Telekom und die Berliner Charité nennt die Antidiskriminierungsstelle als positive Beispiele.

Auch bei der Deutschen Bahn wird das Thema ernst genommen.

Anruf bei Silvia Müller in Berlin. Die 59-Jährige kennt sich mit dem Thema gut aus: Seit 44 Jahren arbeitet sie bei der Bahn, seit drei Jahren ist sie dort Ombudsfrau für Konfliktfälle am Arbeitsplatz – dazu gehören auch die Fälle sexueller Belästigung.

„Meistens geht es dabei um verbale Übergriffe oder um unerwünschte Berührungen”, sagt Müller.

Wann es gefährlich wird:
Von Machtmissbrauch und geringer Abgrenzung

Aber wo fängt das Problem an? „Sexuelle Belästigung liegt im Ermessen des Betroffenen.” In manchen Abteilungen begrüßten sich Mitarbeiter mit Küsschen, in anderen wäre das schon eine Überschreitung.

Ihr ist wichtig, die Mitarbeiter zu ermutigen, Grenzen zu ziehen: „Klar Stopp zu sagen, auch wenn es der Chef ist.”

Ohnehin steht für Müller fest, dass sexuelle Belästigung häufig mit einem Machtgefälle zu tun hat. „Wer Macht hat, nimmt sich viele Freiheiten heraus. Da werden Abhängigkeiten ausgenutzt.” Allerdings sei hier – auch Dank zunehmend flacherer Hierarchien – Besserung in Sicht.

Auch die Antidiskriminierungsstelle weist darauf hin: Am Arbeitsplatz würden in der Regel hierarchische Beziehungen ausgenutzt, um sexuell zu belästigen und die eigene Macht zu demonstrieren.

Besonders perfide: Die belästigte Person wird beschuldigt, etwas missverstanden zu haben oder den Vorfall zu ernst zu nehmen. Sexuelle Belästigung werde als Flirtversuch verharmlost.

„Am Arbeitsplatz kann das so weit gehen, dass der belästigten Person üble Nachrede oder Mobbing unterstellt wird”, heißt es.

Was die Statistik sagt:
Ein Drittel der Frauen betroffen

Wie viele Betroffene gibt es? Genaue Zahlen sind schwer zu bekommen und manche Studien liegen weit auseinander. Laut einer Umfrage im Auftrag des Beamtenbunds dbb wird mehr als jede vierte Frau Opfer sexueller Belästigung.

Konkret haben demnach 26 Prozent in ihrem Jobumfeld schon selbst einmal Formen von sexueller Belästigung oder von sexistischem Verhalten erlebt, wie aus der 2018 veröffentlichten Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Forsa hervorgeht.

Nimmt man dazu, wenn Frauen bei Kolleginnen und Kundinnen solche Belästigung wahrgenommen haben, sind es sogar 35 Prozent, die entsprechendes Verhalten schon erlebt haben.

Männer haben laut der Umfrage zu sechs Prozent schon einmal selbst sexuelle Belästigung oder sexistisches Verhalten erfahren.

Wer was tun kann:
Eine Frage der Arbeitskultur

Noch massiver sind die Ergebnisse einer Online-Befragung unter 743 Ärztinnen und Ärzten der Berliner Charité, die 2015 erhoben und im vergangenen Jahr veröffentlicht wurden.

„Ungefähr 70 Prozent hatten im Laufe ihrer Karriere schon einmal mit sexueller Belästigung zu tun, ob als direkt Betroffene oder als sogenannte Bystander”, sagt Sabine Oertelt-Prigione, Gender-Forscherin der Charité.

Und: „Es ist nicht nur ein Frauenthema.” So erlebten laut der Studie 76 Prozent der weiblichen Befragten, aber auch 62 Prozent der Männer sexuelle Belästigung.

Zumeist waren es verbale Übergriffe. Bei zweiteren kamen diese oft von anderen Männern oder von Gruppen.

„Wir sprechen nicht von einem Nischenthema, das nur ein paar arme Frauen betrifft, sondern von einem Arbeitskulturproblem, mit dem wir uns insgesamt auseinandersetzen müssen”, sagt Oertelt-Prigione, die aktuell einen Lehrstuhl für Gender-Medizin in den Niederlanden innehat.

„Es geht darum: Was für eine Kultur wollen wir am Arbeitsplatz?” Wichtig sei, überhaupt erst mal ein Problembewusstsein zu schaffen.

„In vielen Unternehmen herrscht immer noch die Ansicht: Sexuelle Belästigung gibt es, aber nicht bei uns.”

Wo es Ansatzpunkte gibt:
Keine Angst vor der Anzeige

Was können Arbeitgeber dann als nächsten Schritt für sicheres Klima tun? Im Grunde brauche es drei Säulen, erklärt die Charité-Expertin: Sie müssten eine Betriebsvereinbarung entwickeln, Schutz und Beratungsangebote installieren und Prozesse transparent machen.

„Das gilt für Unternehmen jeglicher Größe, denn Betroffene dürfen keine Angst haben, Vorgänge zu melden.”

Auch bei der Bahn-Ombudsfrau Müller haben schon Männer Hilfe gesucht. „Allerdings kommen sie deutlich seltener als Frauen. Vielleicht ist aber auch die Schamgrenze höher.”

Ihrer Erfahrung nach gilt: „Sexuelle Übergriffe kommen in allen möglichen Konstellationen vor.”

Was #metoo bewirkt hat:
Ermutigung und Sensibilität

Generell habe sich durch #metoo einiges getan, sagt sie. „Die Kolleginnen und Kollegen sind sensibler geworden und die Frauen haben mehr Mut bekommen, das Thema anzusprechen”.

Zugleich habe etwa die Bahn einiges unternommen in den vergangenen Jahren – auch schon vor #metoo: „Wir haben viel in Prävention und Aufklärung investiert und ein zweitägiges Seminar zum Umgang mit sexuellen Übergriffen entwickelt.”

Neben der Ombudsfrau gibt es auch externe Hotlines mit psychologischen Experten, an die sich Betroffene wenden können.

Für Müller ist es am wichtigsten, dass Mitarbeiter ermutigt werden, über die Vorfälle zu sprechen. „Denn wenn niemand den Mund aufmacht, ändert sich nichts.”