Hochbegabung – Karriere für IQ-Überflieger
Eltern wünschen sich mehrheitlich ein hochbegabtes Kind und – Hand aufs Herz – jeder wäre gern der nächste Einstein. Menschen mit sehr hohem IQ haben es jedoch auch nicht leicht – im Gegenteil. Ein Besuch bei Genies.
Noch während die Zuhörer klatschen, gehen fünf Hände in die Luft. Die Fragerunde dauert wie immer länger als der eigentliche Vortrag. Die 55 Frauen und Männer langweilen sich schnell, deshalb brauchen sie ständig neues Gedankenfutter. Denn sie haben eine Gemeinsamkeit: Ihr Intelligenzquotient (IQ) liegt bei über 130 Punkten. Damit dürfen sie Mitglied bei Mensa werden, einem Club für Hochbegabte, der traditionell nur überdurchschnittliche Zeitgenossen aufnimmt. Der Verein überprüft das mit einem Aufnahmetest. Nur zwei Prozent aller Menschen schaffen die Logik-, Wort- und Zahlenrätsel unter Zeitdruck, bestenfalls bekommen sie drei Wochen später Post: Der IQ-Bescheinigung liegt dann eine Einladung des Vereins bei.
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Intelligenz „Zum Wohle der Menschheit“
Etwa 12.500 Mitglieder hat er in Deutschland, weltweit sind es 120.000 in 100 Ländern. In der Satzung ist der Zweck offiziell festgehalten. Er will die Intelligenz „zum Wohle der Menschheit“ erkennen und fördern sowie Forschungen über die Natur der Intelligenz unterstützen. Außerdem möchte er die Mitglieder buchstäblich an einen Tisch bringen – lateinisch „mensa“ – und ihnen „ein intellektuell und gesellschaftlich anregendes Umfeld“ zur Verfügung stellen. Auch deshalb treffen sich die Hamburger Mitglieder an diesem Abend zum Business-Stammtisch. Genug zu besprechen gibt es immer.
IQ-Tests sind so beliebt wie umstritten. Schon seit Jahrzehnten streiten Experten darüber, was das Ergebnis über einen Menschen aussagt, ob der IQ im späteren Leben eine Rolle spielt – und wenn ja, welche. Es gibt Dutzende von Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen dem Testergebnis einerseits und Schulnoten, Einkommen oder gar Lebensdauer andererseits nahelegen. All diese vermeintlich gesicherten Erkenntnisse trugen dazu bei, dem Test ein fast mythisches Image zu verpassen – konnte er doch scheinbar in gewisser Weise die Zukunft der Testpersonen vorhersagen.
Deshalb wünschen sich Eltern hochbegabte Kinder, schicken sie im Kindergartenalter zur musikalischen Früherziehung oder melden sie auf teuren Privatschulen an. Studierende wären gerne so schlau wie die Jahrgangsbesten, Arbeitnehmer hätten gern für jedes Problem eine kreative Lösung. Alles nicht verkehrt, manchmal hilft es ja auch. Aber manchmal auch nicht. Denn tatsächlich ist ein hoher IQ für viele Hochbegabte nicht Segen, sondern Fluch. Kein Anlass zur Freude, sondern Grund zur Sorge. Privat wie beruflich. „Einstein findet jeder toll, doch als Kollegen würden ihn die meisten sicher nervig finden“, sagt Heinz-Detlef Scheer.
Der Psychologe arbeitet als Coach für Hochbegabte. „Viele von ihnen ecken oft an“, sagt Scheer, „sie werden als arrogant empfunden, als besserwisserisch, als taktlos.“ „Uns wird oft vorgeworfen, wir seien elitär, da wir Menschen mit niedrigerem IQ als 130 nicht in den Verein aufnehmen“, sagt Mensa-Mitglied Helga Liefkes. Zumindest gegen den Vorwurf der räumlichen Abschottung wehrt sich der Verein, die meisten Veranstaltungen sind öffentlich. „Der IQ entscheidet ja nicht darüber, ob jemand ein besserer oder schlechterer Mensch ist“, sagt die 59-Jährige. Vor allem aber ist der IQ nur eine von vielen Antworten auf die Frage, was Scharfsinn und Klugheit eigentlich bedeuten.
Hochintelligente sind nicht nur Naturwissenschaftler
Denn Forscher definieren Intelligenz mittlerweile in wesentlich mehr Bereichen. Der IQ hingegen beruht nur auf drei Dimensionen: mathematische, räumliche und sprachliche Denkfähigkeit. Deshalb denken die meisten bei geistigen Überfliegern häufig an Genies aus den Naturwissenschaften wie zum Beispiel Stephen Hawking, Albert Einstein oder Marie Curie. Diese prominenten Ausreißer prägen das Bild von Hochintelligenten. Dabei arbeiten die meisten in alltäglichen Jobs. Auch bei Mensa sind fast alle Berufe vertreten; ob Lehrerinnen, Zahnärzte oder Hausmänner.
Nur ein Klischee stimmt tatsächlich: Überdurchschnittlich viele Mitglieder arbeiten im IT-Bereich. Auch Helga Liefkes ist als freie Interimsmanagerin und Beraterin in der IT-Branche tätig. Die Mathematikerin springt ein, wenn Unternehmen in komplexen Situationen rasche Hilfe brauchen. Ihre Intelligenz kommt ihr dabei zugute: „Unsere Denkgeschwindigkeit ist schneller als beim Durchschnitt.“
Neben ihr steht an diesem Abend Wolfram Koller. Der Softwareunternehmer hat den Business-Stammtisch in Hamburg vor acht Jahren gegründet. Das Treffen soll jene Superschlauen zusammenbringen, die auch beruflich ehrgeizig sind. Sie können Kontakte knüpfen und Ratschläge einholen für ihre Karriere. Hinter den Fensterscheiben spiegeln sich die Lichter auf der Binnenalster. Kronleuchter, Parkettböden und goldene Stuckdecken verleihen dem Raum ein mondänes Ambiente. Alle paar Monate lädt Koller einen Vortragsgast ein, um den Zuhörern neuen Input zu geben. An diesem Abend steht ein zurückhaltender Mann vor ihnen.
Der eigene IQ bleibt geheim Dirk Müller-Remus beschäftigt in seiner Firma überwiegend Autisten als IT-Berater. Die Grenze zur Hochintelligenz ist mal mehr, mal weniger eindeutig. „Beide erfassen Situationen und Probleme sehr schnell. Wenn ich einen Fehler in meiner Präsentation hatte, haben Sie den bestimmt direkt entdeckt“, sagt er. „Zwei“, sagt eine Frau etwas zu laut, alle lachen. Es wird viel gelacht an diesem Abend. Wer an introvertierte Computerfreaks und dicke Brillen denkt, liegt falsch. In klassischer Geschäftskleidung stehen die Hochbegabten dicht gedrängt an der Bar und trinken Cocktails, Bier und Wein. Die Gespräche verlaufen schnell, die Mitglieder springen von einem Thema zum anderen und wieder zurück. Nur eines ist tabu: der eigene IQ. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz des Vereins, dass die exakte Höhe des Testergebnisses ein Geheimnis bleibt.
Wohin mit den Ideen?
Was an diesem Abend zwingend notwendig ist, erweist sich in der normalen Welt oft als Problem: Überdurchschnittlich intelligente Menschen haben Ideen im Überfluss – und das kommt bei vielen Kollegen nicht gut an. Die einen fassen den Eifer als Strebertum auf, andere fühlen sich im Angesicht intellektueller Unterlegenheit unsicher und geben den Frust an die Verursacher der schlechten Gefühle weiter. „Hochbegabte haben deshalb oft ein geringes Selbstbewusstsein“, sagt der Psychologe Scheer. Andere wiederum fühlen sich angegriffen und fürchten um ihre Macht.
Deshalb trainiert Scheer mit seinen intelligenten Klienten vor allem Alltagssituationen: Warum kippte die Stimmung der Diskussion? Wieso reagierten die Kollegen pikiert auf einen Vorschlag? Weshalb wurde der einfältige Kollege befördert – und nicht ich? Häufig erkennen die Betroffenen erst in solchen ehrlichen Feedbackgesprächen, wie irritierend ihre Denkgeschwindigkeit auf andere bisweilen wirken kann. „Gerade Vorgesetzte denken, eine besonders engagierte Kollegin wolle ihren Job, und gehen in die Verteidigungshaltung“, sagt Scheer. Doch das entpuppt sich häufig als Irrtum.
Denn eine Reihe von Untersuchungen zeigt: Die Mehrheit der Hochbegabten hat kein Interesse an einer steilen Konzernkarriere. Ein Forscherteam um den Psychologen Rüdiger Hossiep von der Universität Bochum analysierte für eine Studie im Jahr 2013 die Charakterunterschiede von überdurchschnittlich intelligenten Menschen im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung. Etwa 500 Mensa-Mitglieder beteiligten sich. Die größte Abweichung zeigte sich ausgerechnet in jenen Eigenschaften, die im Berufsleben wichtig sind. Zwar waren die Hochbegabten durchaus motivierter, Probleme zu lösen – an Führungspositionen hatten sie jedoch deutlich weniger Interesse.
Konzernkarriere, nein danke
Sie wollen eben optimieren, nicht organisieren; gestalten, nicht verwalten; kreieren, nicht delegieren. Das bestätigen die Langzeitstudien von Camilla Benbow und David Lubinski von der amerikanischen Vanderbilt-Universität. Seit mehr als 30 Jahren begleiten sie etwa 5000 Personen, die als Kinder in den Achtzigerjahren einen Universitätstest locker bestanden hatten. Kürzlich schauten die Forscher nach, was aus den 320 schlausten Teilnehmern der Versuchsgruppe geworden war – die obersten 0,01 Prozent der Bevölkerung.
Und siehe da: Überraschenderweise hatten nur 63 Prozent der geistigen Crème de la Crème einen höheren akademischen Grad wie beispielsweise den Master erreicht. Die wenigsten waren schöpferisch tätig, nur zwei der Supergenies waren im Vorstand eines „Fortune“-500-Unternehmens gelandet. Die Studie von Benbow und Lubinski belegt eine vermeintliche Banalität: Unter Hochbegabten gibt es offenbar eine ähnliche Bandbreite wie unter Normalbegabten. Das zeigt sich oft schon in der Schule. Hochbegabte Kinder verschwenden ihre Aufmerksamkeit ungern mit vermeintlich banalen Aufgaben.
„Im Unterricht habe ich mich damals kaum gemeldet. Die Fragen kamen mir zu einfach vor, gleichzeitig wollte ich ja nicht als Streberin dastehen“, sagt die Mathematikerin Liefkes heute. Manche erfahren erst im Studium, was es überhaupt bedeutet, für Klausuren tatsächlich lernen zu müssen, da sie das als Schüler kaum mussten – andere scheuen selbst diese Mühe. Eine überdurchschnittliche Intelligenz führt daher nicht automatisch zur erfolgreichen Karriere. „Der IQ ist schließlich nicht gleichbedeutend mit Motivation oder Ehrgeiz“, sagt der Psychologe Scheer. Nur eine Eigenschaft haben fast alle Hochintelligenten. Sobald sie sich in ein Aufgaben- oder Themenfeld eingearbeitet haben, wird ihnen schnell langweilig.
Typisch sind daher Zickzacklebensläufe und viele angefangene und abgebrochene Stationen. Routine empfinden sie als Tortur – das müssen auch Unternehmen berücksichtigen. „In vielen Firmen sitzen Hochbegabte, die Großartiges leisten könnten“, sagt Scheer. „Man muss ihnen nur herausfordernde Aufgaben geben.“
Potenziale richtig nutzen
Wichtig sei nur, dass das nicht als Sonderbehandlung kommuniziert wird. Interne Ideenschmieden, losgelöst von starren Hierarchiestrukturen – mit solchen Maßnahmen könnten Firmen vom hohen IQ der Angestellten profitieren. Das hat sich mittlerweile bei vielen Arbeitgebern herumgesprochen. „Fast täglich gehen Mails über den Verteiler, in denen jemand einen Mitarbeiter sucht“, sagt Mensa-Mitglied und Business-Stammtisch-Gründer Wolfram Koller. Seine Vereinsfreundin Marna Michel hat aus diesem Bedarf ein Geschäftsmodell entwickelt – sie bringt hochbegabte Brainstorming-Teams mit Unternehmen zusammen.
Andere Superintelligente machen sich ebenfalls gerne selbstständig. So können sie sich auf die eigentliche Tätigkeit konzentrieren. Ohne Smalltalk, langwierige Konferenzen oder hindernde Hierarchien. Denkanstöße suchen sich die meisten Hochbegabten ohnehin anderswo – am liebsten bei Menschen, die gleich schnell getaktet sind. Am Hamburger Stammtisch sehen sich viele zum ersten Mal, Redepausen gibt es nicht. Weil alle etwas zu sagen und zu fragen haben. Aber auch, weil es für alle entspannt ist, sagt Helga Liefkes: „Wir genießen es einfach, uns im Kreis von Hochbegabten einfach mal ganz normal zu fühlen.“
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