Die Zukunft der EU gestalten

Ein Drittel der EU-Beamten geht in diesem Jahrzehnt in Pension. Das macht den Weg für Bewerber aller Fachrichtungen frei. Aber die Einstiegshürden sind hoch.

Saskia Eversloh | 02.10.2018

Kaum jemals dürfte die Arbeit bei der Europäischen Union spannender gewesen sein als heute: Weg von kleinteiligen EU-Verordnungen zum Krümmungswinkel von Bananen hin zu den weltpolitischen Fragen unser Zeit: Brexit, Migration, Sicherheit, Verteidigung, Trump.

Und immer mehr geht es auch um das Selbstverständnis und die Zukunft der EU. Daran arbeiten in Brüssel neben 25.000 EU-Beschäftigten auch 20.000 Interessenvertreter, die Einfluss auf politische Positionen und die EU-Gesetzgebung nehmen.

Unterschiedliche Berufsbilder

Ob EU-Kommissionsmitarbeiter oder Lobbyist, eines ist beiden Berufsbildern der politischen Interessenvertretung gemein: Sie stehen grundsätzlich allen Fachrichtungen offen. Entscheidend sind eine sehr gute Allgemeinbildung, wozu bei allen Auswahlverfahren auch Mathematik und Logik zählen, fundierte Kenntnisse der EU-Politik und -Abläufe, mehrere Sprachen und – ein langer Atem.

Letzteres gilt insbesondere für das standardisierte Bewerbungsverfahren der EU-Institutionen, den „Concours“, den jeder durchlaufen muss, der einen unbefristeten Vertrag („Contract Agent“) ergattern will.

Mit dem Concours hat sich eine ganze Maschinerie von Vorbereitungstrainings herausgebildet, die die Bewerber in ein bis zwei Jahren durch diese sogenannte Bestenauslese schleust.

Brüssel mit Zeitvertrag

Dass es erst einmal auch anders geht, zeigt Politikwissenschaftlerin Christina Wunder (30), Pressereferentin bei der EU-Kommission und zuständig für internationale Kooperationen und Entwicklungszusammenarbeit. Sie ist ein „Temporary Agent“: Sie hat einen Zeitvertrag bei der EU-Kommission – und musste deswegen nicht den aufwendigen Beamten-Concours durchlaufen.

Einen langen Atem brauchte sie allerdings auch: „Ich habe mich schon immer für Internationales interessiert. Ich bin zweisprachig aufgewachsen und bei meiner ersten Ausbildung als Dolmetscherin kam die Hälfte der Studierenden nicht aus Deutschland.

Heute bin ich bei der EU-Kommission und spreche jeden Tag alle meine Sprachen: Deutsch, Russisch, Englisch und Französisch“, schwärmt Christina Wunder, die 1989 als Russlanddeutsche im heutigen Kasachstan geboren und mit ihren Eltern nach Andernach in Rheinland-Pfalz ausgewandert ist.

Praktikum als Einstieg

Den Einstieg hat Christina Wunder mit einem „Blue Book-Stagiaire“ geschafft, einem fünfmonatigen, bezahlten Praktikum bei der EU-Kommission: „Ein Praktikum ist immer ein guter Einstieg, man lernt Leute kennen, die Arbeitsweise und auch die Arbeitskultur.

Außerdem ist das EU-Praktikum fair bezahlt, ich habe über 1.100 Euro bekommen und konnte meinen Aufenthalt in Brüssel damit finanzieren.“

Aber selbst für das Praktikum musste sie an einem zentralen Auswahlverfahren des Europäischen Amts für Personalauswahl (European Personnel Selection Office, kurz EPSO) teilnehmen – genauso wie erneut für ihren späteren Zeitvertrag: „Neben dem Job-Interview hatte ich dann noch die Aufgabe, in kurzer Zeit aus einer Pressemeldung politisch relevante Punkte für ein Positionspapier zu extrahieren.“

Das sei jedoch kein Vergleich zu den Ansprüchen des Concours gewesen …

Über eine Million Menschen leben in Europas Hauptstadt und es gibt so viele Nationalitäten und diplomatische Vertretungen, wie es Länder gibt. Hinzu kommt eine unvergleichlich hohe Fluktuation durch Semesterscharen von Praktikanten und Tausende von Temporary Agents.

Das erfordert nicht nur Fachwissen, sondern auch soziale Kompetenz: Immer wieder neue Kontakte aufbauen, mit neuen Menschen zusammenarbeiten und sich auch alle paar Jahre einen neuen Bekanntenkreis aufbauen, wenn man zu denen gehört, die unbefristet bleiben.

EU-Mitarbeiter oder Lobbyist

Das Verhältnis von EU-Beschäftigten und Interessenvertretern in Brüssel steht nach Schätzungen der Nichtregierungsorganisation Lobby Control fast 1:1 – 25.000 EU-Mitarbeiter zu 20.000 Lobbyisten.

Etwa 70 Prozent der Lobbyisten sind für Unternehmen und Wirtschaftsverbände tätig, etwa ein Drittel davon kommt aus den USA. Immer mehr Organisationen lassen sich aber lieber von kleineren Consulting-Büros oder Anwaltskanzleien vertreten, denn diese gehen mehr auf ihre individuellen Anliegen ein und letztere unterliegen der Schweigepflicht.

Auch Nichtregierungsorganisationen, Forschungseinrichtungen, Religionsgemeinschaften und kommunale Behörden werden zu den Lobbyisten gezählt.

Während Lobbying im englischsprachigen Raum als Tätigkeit mit hohem Professionalisierungsgrad gilt, steht die Ausbildung in Deutschland noch am Anfang und es wird lieber allgemeiner von Interessenvertretung, Politikberatung oder Public Affairs gesprochen.

Kritikpunkte sind Einflussnahme und Intransparenz. Dem soll das 2015 überarbeitete Transparenz-Register entgegenwirken, in das sich alle Interessenvertreter eintragen müssen, die sich schriftlich oder persönlich an Beschäftigte der Europäischen Kommission oder des Europäischen Parlaments wenden.

Arbeiten im Interesse einer Organisation

Umgekehrt sind die EU-Institutionen aber auch verpflichtet, vor Gesetzesänderungen oder -verabschiedungen im Rahmen offizieller Anhörungen alle relevanten Interessengruppen zu Wort kommen zu lassen und deren Anliegen abzuwägen. Schließlich müssen die EU-Generalisten sich oft in neue Sachverhalte einarbeiten und sind durchaus auch auf externe Beratung und Sichtweisen angewiesen.

Dr. Angelika Poth-Mögele (59) ist Executive Director im Council of European Municipalities and Regions (CEMR), einer europäische Dachorganisation von 60 kommunalen Spitzenverbänden aus 42 europäischen Ländern.

Seit 2004 beobachtet sie als Interessenvertreterin des CEMR das Arbeitsprogramm der Kommission sowie die Tagungen der Fachministerräte, des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments – und erarbeitet Positionspapiere und gegebenenfalls auch Vorschläge für Änderungsanträge, die im Sinne der europäischen Gemeinden und Regionen sind.

„Wichtig ist, dass man sich mit den Interessen der Organisation oder des Unternehmens identifizieren kann, als Nichtraucher sollte man nicht unbedingt in die Tabakindustrie gehen. Schließlich kann man andere nur überzeugen, wenn man selbst mit Herzblut dabei ist“, spitzt die Politologin, Literatur- und Sprachwissenschaftlerin wohl in Hinblick auf die Lobbyfilmsatire „Thank You for Smoking“ zu.

Strategische Planung schon vor der Bewerbung

Wie bei Christina Wunder stand auch für Angelika Poth-Mögele früh das Internationale im Mittelpunkt: „Mein Mann und ich haben uns in einem EU-Seminar an der Philosophischen Fakultät an der Universität Augsburg kennengelernt, und für uns war damals schon klar, dass unser Beruf irgendetwas mit Europa zu tun haben soll.“

Als ihr Mann dann 1989 den EU-Concours bestand, zogen sie und ihr Sohn mit nach Brüssel.

„Insgesamt bin ich sehr strategisch vorgegangen und habe meine beruflichen Etappen geplant“, sagt Poth-Mögele. Ihre Promotion hat sie zur Europäischen Strukturpolitik geschrieben, und als sie Anfang der 90er Jahre fertig war, passte das sehr gut: Das war gerade die Zeit, als die deutschen Bundesländer ihre Vertretungen in Brüssel einrichteten und auch die bayerischen kommunalen Spitzenverbände sich entschieden, ein eigenes Büro zu eröffnen – und so wurde sie gleich nach der Uni im Europabüro der bayerischen Kommunen in Brüssel angestellt.

Arbeitsbedingungen und Gehalt

Die heutigen Arbeitsbedingungen von Interessenvertretern schätzt sie wie folgt ein: „Es gibt vernünftige Gehälter, aber reich wird in unserem Umfeld keiner, die Lebenshaltungskosten sind in Brüssel auch höher als in Deutschland. Der Deal ist die interessante Arbeit, viele Dienstreisen ins Ausland.“

Die jungen Kolleginnen blieben oft nur ein paar Jahre und gingen dann gut qualifiziert in ihr Heimatland zurück oder wechselten zu den europäischen Institutionen. Und in der Tat seien es mehr Frauen – Kommunikation und Sprachen lägen ihnen womöglich mehr, obwohl sich das in den letzten Jahren etwas geändert habe und mehr Männer hinzugekommen seien.

Karriere durch Netzwerken

Gezieltes Networking hat ihr Weiterkommen von Anfang an befördert: „Kontakte pflegen und ausbauen, das gehört maßgeblich dazu in Brüssel. Ich wollte Karriere machen und nichts dem Zufall überlassen, sonst wäre ich jetzt nicht da, wo ich bin.“

Als voll berufstätige Mutter sei das nicht immer einfach gewesen, und – wie andere Frauen in ähnlichen Situationen – habe sie manches Mal ein schlechtes Gewissen gehabt. Aber in dem Job müsse man eben flexibel sein, oft Abendveranstaltungen besuchen oder zu dienstlichen Abendessen gehen.

Networking-Möglichkeiten gibt es unendlich viele in der EU-Hauptstadt: Lunch Debates, Parlamentarische Frühstücke und Abende, zu denen auch Praktikanten gern geschickt werden.

Hinzu kommen die Brauchtumsfeste der EU-Mitgliedstaaten und auch der anderen Länder wie den stark vertretenen USA. Vom Karneval über die Mittsommerwende bis zum Thanksgiving Day bieten landestypische Feste das ganze Jahr über Gelegenheit zur Netzwerkarbeit.

Entscheidend ist, bei der Vielzahl der Veranstaltungen nicht den Überblick zu verlieren und sich nicht zu verzetteln: Schließlich ist ganz Brüssel eine Netzwerkveranstaltung.